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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Ausnahme.«
    Lächelnd sieht Tom sie an. »Es kommt einem wirklich wie das Richtige vor, Scarlet«, sagt er. Er streichelt ihr übers Haar. »Für uns war es das mit Sicherheit.«
    Sie lehnt sich näher zu ihm, sehnt sich danach, mehr von seiner weichen Stimme zu hören, mehr von diesem tiefen, tröstlichen Brummen in diesem irrsinnig lauten Führerhäuschen des Kühlwagens. Natürlich gibt es noch mehr zu sagen, denkt sie. Doch das Rauschen der Luft, der Lärm der Straße unter ihnen, alles um sie herum brüllt jetzt, und sie kann absolut nichts hören.
    »Mein Gott, hier drin ist es wie in einem Windkanal oder so was.« Sie schließt die Augen und kämpft gegen die Tränen.
    Da sagt Tom eben das, was Scarlet sich nicht zu denken gestatten wollte, und alles wird plötzlich ganz still. »Wir haben
beide unsere Mutter verloren, als wir uns entschlossen, ein Kind zu bekommen, stimmt’s, mein Liebling?« Er nimmt ihre Hand, und sie nickt, den Blick in die Dunkelheit gerichtet. Und dann lässt sie den Tränen freien Lauf.
    Später, als sie das Haus an der Haupt Bridge Road erreichen, spannt die Haut ihrer Wangen von den trocknenden Tränen. Seht euch an, wie weit sie gekommen ist, denkt Scarlet, von Träumen von einem Sommerhaus auf Nantucket über einen Biobauernhof in Vermont bis hin zum Schriftstellerleben in New York City. Und nun ist sie im zweiten Monat schwanger von ihrem Jugendschwarm aus New Jersey, einem arbeitslosen Alkoholiker auf Entzug, hat keine klare Vorstellung, wo oder wie sie leben sollen, und befindet sich auf dem Weg in ihr Elternhaus, den Leichnam ihrer Mutter im Gepäck. Die Tochter der berühmt-berüchtigten Addie Sturmer Kavanagh und ihres völlig in sie vernarrten Ehemannes Tom, am Tag nach dem Tod ihrer Mutter. Kehrt in das Heim ihrer Kindertage zurück, eine Fischerhütte, die immer noch mit Scarlets allerersten Kreidekrakeleien und Addies wunderschönen frühen Bildern geschmückt ist, um ein Loch zu buddeln und ihre Mutter zu begraben, auf diesem Land, das sie liebte und manchmal hasste, auf der Hügelkette jenseits des Bachs.
    Bei dem Gedanken muss Scarlet laut lachen.
    Tom wirft ihr einen Seitenblick zu, während er den Motor abstellt. »Was ist so lustig?«, fragt er.
    »Nichts«, sagt sie, »nichts«, und wedelt mit der Hand vor dem Gesicht. Es ist nur einfach jetzt, wo sie angekommen sind, alles plötzlich zu viel.
    Endlich holt sie wieder tief Luft. »Findest du es dumm von mir?«
    Er nimmt ihr Gesicht kurz in seine Hände, dann sagt er:
»Ich kenne dich, Scarlet. Du wirst schon einen Weg finden, wie es funktioniert.«
    Damit drückt er die Fahrertür auf und tritt hinaus in die mondhelle Nacht. Das Quaken der Laubfrösche ist beinahe ohrenbetäubend. Scarlet hat fast vergessen, wie das klingt.
    »Komm mit«, sagt Tom und winkt Dustin zu, der hinter ihnen aus dem Auto steigt. »Wir haben eine Menge Arbeit vor uns.«
    Tom sammelt Schaufeln und Spitzhacken zusammen, dann verschwindet er für eine Weile in seinem und Addies Schlafzimmer. Scarlet zeigt Dustin das Badezimmer. Als er eine Minute später wieder herauskommt, steht sie in der Küche und kocht Tee. Mit einem Blick in sein müdes Gesicht stellt sie fest, dass er älter ist, als sie gedacht hat – vielleicht nicht einmal so viel jünger als sie selbst.
    Er nimmt die Tasse Tee, die Scarlet ihm anbietet, und setzt sich an den Küchentisch. Scarlet versucht, Konversation zu machen – War die Fahrt in Ordnung? Was hielt er von der Straße am Fluss? –, bekommt aber kaum mehr als einsilbige Antworten.
    »Es ist echt nett von dir, dass du uns bei dieser ganzen Sache hilfst«, sagt sie schließlich leicht stotternd vor Unbehagen und frustriert, weil sie so wenig von ihm weiß. »Das alles muss dir ziemlich seltsam vorkommen.«
    Er wirkt verblüfft. »Was denn?«, fragt er.
    Sie deutet auf die Hintertür, wo der Kühlwagen steht, in dem Addies Leichnam in Dustins einfachem Holzsarg wartet. »Na ja«, sagt sie, »das Ganze. Meine Mutter im Schutz der Dunkelheit hierherzuschaffen, sie heimlich zu begraben, kein Friedhof weit und breit …«
    Da lächelt Dustin sie an – ein so nettes, sanftes Lächeln. In diesem Moment erinnert er sie an Bobby, und sie spürt einen sehnsuchtsvollen Stich.

    »Nein, das ist überhaupt nicht seltsam. Das ist sogar eine ziemlich einfache Bestattung. Tom hat ja alles rechtzeitig vorbereitet. Ich habe schon viel schwierigere Fälle erlebt.«
    »Du meinst, du machst so was nicht zum ersten Mal?« Seine

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