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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Januars, Februars und der ersten Märztage grübelte
Addie und sorgte sich. Aber als im Mai die Vögel sangen, als sie selbst den Umfang eines Medizinballs annahm und den Pinsel auf ihrem Bauch balancierte, vergaß sie ihre Sorgen eine Zeitlang.
    Natürlich hatte Addie, als die Wehen einsetzten, schon geraume Zeit gewusst, dass ihr Kind nach einem Vogel benannt werden würde – um genau zu sein nach dem Vogel, der während des Herbstes 1967 und des Frühlings 1968 in gewisser Weise ihre Gefühle verkörperte: Scarlet, wenn es ein Mädchen, Tanager, wenn es ein Junge würde. Scarlet tanager , die Scharlachtangare.
    »Du hattest ganz schön Glück, dass du ein Mädchen warst«, würde Tom Jahre später bemerken – obwohl Scarlet tatsächlich der Name Tanager Kavanagh immer gut gefallen hatte. Im Gegensatz zu dem eher praktisch veranlagten Tom, der sich nach dem Chaos in seiner eigenen großen, überwiegend unglücklichen Familie eigentlich nie mit einem eigenen Kind gesehen hatte. Der, wie die meisten Väter seiner Generation, den Großteil der Schwangerschaft und Erziehung betreffenden Entscheidungen seiner jungen Frau überließ und der seine Ängste und Sorgen herunterschluckte, als Addie im Zuge ihrer Winterlektüre verkündete, sie werde ihr Kind zu Hause bekommen, mit Unterstützung einer illegalen Hebamme.
    Ihre Zuversicht trog. Denn auch sie hatte ihre Ängste und Sorgen, und genau wie Tom fiel es ihr nicht leicht, sich selbst als Mutter zu sehen. Sie war trotz allem noch so jung, und in vielerlei Hinsicht fühlte sie sich selbst noch wie ein Kind. Aber es waren einige Dinge geschehen, und Addie stellte eine seltsame Art von Sehnsucht in sich fest, die sie vorher nicht empfunden hatte. Da war zum Beispiel Cora.
    Im Herbst vor den Reisen nach Cape May und im Anschluss nach England hatten Addie und Tom auf dem Rückweg
von Hawk Mountain nach Burnham einen Zwischenstopp in Bethlehem eingelegt, um Cora, Karl und ihren friedlichen, drei Monate alten Jungen zu besuchen. Nie zuvor hatte ein Säugling eine solche Wirkung auf Addie gehabt. Während des gesamten Aufenthalts hatte sie ihn auf dem Arm gehalten, und etwas in seinen großen, vertrauensvollen Augen hatte sie völlig überwältigt. Die gesamte einstündige Fahrt zurück nach Burnham hatte sie geweint, ohne im Geringsten erklären zu können, warum.
    Und dann im darauffolgenden Mai das merkwürdige Gespräch, das sie mit Miss Smallwood hatte. »Du solltest Kinder bekommen«, sagte sie zu Addie, unerklärlich und aus heiterem Himmel in der Diele ihres Reihenhauses, wo sie standen und Gummistiefel und mehrere Lagen Pullis, Schals und Jacken auszogen. Tom war noch draußen und suchte einen Parkplatz.
    »Ich hätte welche haben sollen, haben können – aber ich hab’s nicht getan. Und dann hast du am Ende gar nichts, weißt du?« Sie deutete mit der Hand auf das warme Wohnzimmer, das mit seinen Bücherregalen an den Wänden und den persischen Teppichen und dem marmorgerahmten Kamin in Addies Augen nicht gerade wie nichts aussah.
    Addie war so verblüfft von diesem unerwarteten, unvermittelten Ratschlag gewesen (sie hatten sich gerade, soweit sie sich erinnern konnte, über die schwierige Lage von John James Audubons Frau Lucy unterhalten, die mit ihren zwei Söhnen allein in Louisiana bleiben musste, während Audubon für drei Jahre auf Reisen ging), dass ihr keine Entgegnung darauf einfiel. Also stand sie einfach sprachlos da, einen Stiefel in der Hand baumelnd, während Miss Smallwood sie traurig anlächelte, ihre Jacke auf einen Haken hängte und mit den Worten »Ich setz dann mal Tee auf« in der Küche verschwand.
    Tom erzählte sie nichts davon. Doch einen Monat später,
am Strand bei Falcarragh, wo er nach ihrem Besuch bei seiner kranken und senilen Mutter schweigend, mit Tränen in den Augen dastand, nahm Addie seine Hand und sagte: »Vielleicht könnten wir ein Kind bekommen.« Woher sie wusste, dass es der richtige Zeitpunkt war, um so etwas zu sagen, war ihr ein Rätsel. Aber da waren die Worte. »Vielleicht… ein Kind.« Er sah sie daraufhin sehr lange an und nickte schließlich. Einen Monat später vollendete er sein Manuskript an einem Schreibtisch im British Museum. Und am nächsten Tag, als sie die Heimreise antraten, vermutete Addie ganz richtig, dass ihr Unwohlsein nicht allein der Seekrankheit geschuldet war.
    Und so war im Sommer 1968 alles anders geworden. Tom unterrichtete wieder, mit mehr Leidenschaft als je zuvor, beseelt von seinem

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