Die Luft, die uns traegt
Gesang der Scharlachtangare – »wanderdrosselähnlich, aber heiser«, wie Peterson es formuliert, »wie eine Wanderdrossel mit Halsweh. «
Oder in den Worten F. Schuyler Matthews’ »ein träges, schläfriges, mattes Brummeln«, in seiner Notation dargestellt als Serie von getrillerten Tönen – als ob ein Triller das auch nur annähernd beschreiben könnte, meinte Tom dazu, der wiederum von dem gutturalen Soundso schrieb, das man in einem altenglischen Gedicht hört oder zu hören glaubt.
Im achten Monat schwanger und mit dem Korrekturlesen der Druckfahnen für Eine Prosodie der Vögel beschäftigt, sagte Addie nichts dazu, obwohl sie es ungenau fand. »Träge, schläfrig, matt« traf es besser, wenn auch diese Worte trotzdem nicht einfingen, wie sie sich fühlte, nämlich genau wie die Scharlachtangare klang: benommen und doch wach, ganz
weich und voll und mit abgerundeten Kanten, ganz Bereitschaft und Frieden.
Und ausnahmsweise gab sie sich einmal mit Ungenauigkeit zufrieden. Denn auch ihre begleitende Bildtafel war nicht ganz korrekt, das wusste sie. Das spezielle Orangerot des brütenden Männchens war für Addie immer noch schwer fassbar, immer noch nicht ganz getroffen.
»Sie müssen lernen, Kontraste im gleichen Farbfeld nicht zu fürchten. Sie sind schwierig, aber sie kommen vor und müssen demzufolge berücksichtigt werden.« So schrieb es Louis Agassiz Fuertes an seinen Schützling George Miksch Sutton in einem Brief, den Fuertes’ Tochter in ein Buch aufnahm, das Addie Jahre später lesen würde. Während ihres Jahres als »wissenschaftliche Hilfskraft« hatte sie sich tagein, tagaus abgemüht, diese Art von Präzision, diese Genauigkeit der Farbschattierung, der Nuance zu vervollkommnen. Sie hatte sich nach jemandem gesehnt, der sie darin anleiten könnte, nach einem Mentor oder Lehrer, der ihr den richtigen Weg zeigte. Doch sie war zu schüchtern, etwas an Clive Behrend zu schicken, und Tom schien aufrichtig alles zu bewundern, was sie zeichnete oder malte.
Nun aber, nach ihrem sechsmonatigen Aufenthalt im Ausland, erneut erfüllt von der englischen und jetzt auch der irischen Landschaft, so angenehm und gleichzeitig diffus durchdrungen von den Vögeln und ihrem Gesang und ihrer eigenen Liebe zu Tom und dem Baby, das sie in sich trug, kamen ihr Präzision und Genauigkeit plötzlich unerheblich vor. Das Schnarren war es, wonach Addie suchte.
Und es fand sich ebenfalls im braunen Matsch, im üppig modernden Laub am Rande des Bachs, auf den verlassenen, duftenden Waldpfaden. Auch in einer Art verwischter Beschaffenheit der Luft und des Himmels – grau und zart und
träumerisch – den ganzen Herbst hindurch und erneut im Frühling, also den Jahreszeiten vor und nach der frischen Klarheit des Winters. Des Winters, in dem sie eine praktische Seite entwickelte und die Speisekammer füllte und in der Nische des Schlafzimmers eine behagliche Kinderecke einrichtete. Des Winters, als die kalten und hellen und wolkenlosen Tage – ein Habichtblick auf Astwerk und Himmel – sie vom Malen weg- und zum besessenen Lesen von Büchern hinführten, die Tom, ihr sich zum Umweltschützer entwickelnder Ehemann, empfahl: Am Anfang war die Erde von Aldo Leopold und vor allem Der stumme Frühling von Rachel Carson.
Doch im Herbst und im Frühling, als die Singvögel doch noch zurückkehrten (Addie hatte allmählich ernsthaft befürchtet, sie kämen nicht mehr, so heftig hatte ihre Januarlektüre von Der stumme Frühling ihr zugesetzt), ließ Addie sich auf das Schnarren ein, auf die Sanftheit der verwischten Kanten, und brachte hervor, was gewisse Liebhaber ihres Werks (zu welcher eigensinnigen Gruppe auch ihre Tochter gehörte) letzten Endes als ihre besten Arbeiten betrachten würden. Die Bilder mit dem sachten, milderen Pinselstrich, mit der merkwürdig ahnenden Andeutung des Fluges, der wie ein Echo in den Flügeln der Vögel widerhallte. Die Bilder, die lange vor den späteren, schrofferen Arbeiten kamen, aber auch Welten von ihren früheren Bemühungen um Genauigkeit, um präzise Kontraste in ein und demselben Farbfeld entfernt waren.
Dennoch konnte man den Keim ihrer späteren, zornigeren Werke in ihrer scharfsichtigen Lektüre dieses Winters aufspüren, während ihres emsig konzentrierten mittleren Schwangerschaftsdrittels. Was hatte beispielsweise diese wiederkehrende Dunstigkeit, diese poetische, aber wahrscheinlich irgendwie leicht vergiftete Verwischung der Luft verursacht? In der klaren Kälte des
Weitere Kostenlose Bücher