Die Luft, die uns traegt
ihn sehr wahrscheinlich nicht ernst nehmen wird.
Das Gesicht dem Fenster zugewandt nickt Lou abwesend. Sie sieht im inzwischen gleißenden Licht älter aus und wehmütig.
»Außer …«, sagt Cora seufzend, als sie sich wieder dem Tisch und ihrer Zeitung zuwendet.
»Außer?« Lou dreht sich zu ihr um.
»Außer du wolltest das eigentlich gar nicht. Ted endgültig los zu sein, meine ich.« Sie setzt sich wieder die Brille auf die Nase und blättert eine Seite um. Die Stille zwischen ihnen ist jetzt gesättigt und schwer. Lou und Cora kennen einander, und sie kannten Addie, auf eine Art, wie sie selbst es niemals vermochte, denkt Scarlet. Der Gedanke ist seltsam tröstlich, muss sie angenehm überrascht feststellen. Jahrelang hat es ihr zu schaffen gemacht, sich von diesem Teil von Addies Leben so ausgeschlossen zu fühlen.
Vor langer Zeit, während des Jahrs, in dem sie bei Cora wohnte, entdeckte Scarlet ein Buch, das Addie Cora geschickt hatte: Briefe und Tagebuch der Künstlerin Käthe Kollwitz. Sie las das Buch damals wie im Rausch, fasziniert von diesen alltäglichen Beobachtungen und Frustrationen einer berufstätigen Künstlerin und Mutter. Käthe Kollwitz entwickelte sich in
der Folge fast zu einer Manie für Scarlet, einer, die viele Jahre andauern sollte.
Eine Künstlerin und eine Mutter. Eine Künstlerin, die für Mütter eintrat und für die Armen. Eine Grafikerin und Bildhauerin mit sozialem Gewissen, eine Frau, die realistische Darstellungen abgekämpfter Arbeiter und trauernder Mütter schuf, einfach nur, weil sie, wie sie sagte, in ihren Augen »schön« waren. Viel schöner als die Bourgeoisie. Eine Frau, die eigentlich nicht versuchte, ikonoklastisch zu sein, zu schockieren – obwohl sie vielleicht durchaus den Wunsch hatte, die Betrachter ihres Werks zu verstören. Die ihre Kinder, von denen sie eins im Ersten Weltkrieg verlor, und ihren Mann innig liebte, trotz Phasen der Verzweiflung über ihre Arbeit. Sie hatte, glaubte Scarlet, die ideale Künstlerin-Mutter gefunden. Warum konnte Addie nicht eher so sein?
Natürlich war Addie auch so. Angestrengt bemüht, inmitten von so viel Kummer etwas zu schaffen. Aber es sollte einige Zeit und noch mehrfaches Lesen der Kollwitz-Tagebücher dauern, bis Scarlet das erkannte. Und nun versteht sie außerdem, dass Addie selbst nicht sonderlich interessiert an irgendwelchen Parallelen zwischen ihr und Kollwitz war. Sie schickte die Tagebücher damals an Cora, eine ebenfalls trauernde Mutter, weil sie hoffte, sie würden sie trösten und anregen.
Und tatsächlich boten sie Cora eine Art Trost, wenn sie die Tagebücher auch erst zwei Jahre später sorgsam durchlas, als Karl plötzlich und unerwartet an einem Herzschlag starb. Im darauffolgenden Jahr schloss Cora sich in ihrem Haus ein und töpferte und las Tag und Nacht – die Kollwitz-Tagebücher, andere Bücher von und über Künstler. Am Ende dieses Jahres kam sie wieder heraus, bereit, so schien es, der Welt gegenüberzutreten. Ein weiteres Jahr später verwandelte sie ihr Haus in eine ruhige, einfache Pension.
Wenn Scarlet in jenen Anfangsjahren zu Besuch kam, musste sie ihre Enttäuschung herunterschlucken, manchmal Coras wunderbares Frühstück mit zahlenden Gästen zu teilen und Fremde hinten im Garten Karls alte Bocciakugeln werfen zu sehen. Sie vermisste Karls stille Gegenwart, die Rühreier mit Salami, die er manchmal sonntags briet, seine wahllos im Haus verstreuten Stapel von Büchern und Zeitschriften. Die Art, wie er in dem Sommer, bevor Scarlet aufs College ging, dieselben alten Kalauer erzählte wie damals, als sie dreizehn war. Seine sanfte Fürsorglichkeit im Umgang mit Cora.
Bestimmt vermisste Cora all diese Dinge auch, und noch mehr. Wie hatte sie es geschafft, in jenem Jahr nach Karls Tod den Weg aus all ihrer Trauer und Einsamkeit zu finden? »Ich habe gelesen«, war alles, was sie zu Scarlet sagte. »Und getöpfert. «
Wahrscheinlich erzählte sie Addie und Lou mehr. Oder vielleicht brauchte sie das auch nicht.
Sie kennen einander so gut, diese drei , denkt Scarlet. Lou weint wieder, jetzt still.
»Es ist doch erbärmlich, oder?«, sagt sie. »Dass ich ihn möglicherweise noch immer liebe.«
»Nein, meine Süße, das ist nicht erbärmlich«, gibt Cora zurück. Ihr Tonfall ist nüchtern, sachlich, nicht besonders warm. Sie macht keine Anstalten, Lou zu berühren.
»An dem Tag, als ich die Eichhörnchen beobachtete, war vorher etwas passiert«, erzählt Lou, zieht eine
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