Die Luft, die uns traegt
bekommen hätten, das wir an jenem Tag gemacht haben.«
Jetzt steht Cora auf, kniet sich neben Lou und nimmt ihre Hand. Sie macht den Mund auf, um etwas zu sagen, hält dann aber inne, weil sie es sich anders überlegt hat.
Lou sieht sie an und sagt: »Du weißt, dass ich später noch einmal eine Abtreibung hatte, oder? Ja, wirklich. Das war Teds Idee. Er meinte, er müsste zuerst seine letzten Scheine machen. « Sie holt tief und stockend Luft und wendet sich dann an Scarlet.
»Entschuldige, Scarlet«, sagt sie. »Was für ein Thema für
den Morgen nach Addies Tod. Ich kann dir auch nicht erklären, warum mir das gerade jetzt eingefallen ist. Ich habe schon jahrelang nicht mehr daran gedacht.« Sie dreht sich zum Fenster, und Cora setzt sich wieder Scarlet gegenüber auf ihren Stuhl am Tisch. Eine Zeitlang spricht niemand.
»Addie hat die Postkarte an den großen Spiegel im Flur oben geklebt«, sagt Scarlet schließlich. »Ich sehe sie genau vor mir. Soweit ich weiß, hängt sie immer noch da.«
»Ted wusste sogar, was für Vögel das waren«, sagt Lou. »Aber ich habe das natürlich vergessen.«
»Es waren Rauchschwalben«, sagt Tom plötzlich irgendwo hinter Scarlet. Instinktiv setzen sich alle drei Frauen gerade hin, wie Schulmädchen mit einem schlechten Gewissen.
» Hirundo rustica. Rostroter Hals, weiße Flecken auf dem gegabelten Schwanz. Obwohl der Flug nicht ganz richtig getroffen ist. Rauchschwalben gleiten normalerweise nicht so. Und ja, sie hängt noch an dem Spiegel.« Er zieht sich einen Stuhl neben Scarlet und lächelt dankbar, als Cora ihm die Brötchen und einen Becher Kaffee reicht. Er sieht müde aus und plötzlich viel älter, denkt Scarlet, als sie ihn mustert.
»Ich mache noch welchen«, sagt Cora und steht mit der Kanne in der Hand auf. Sie ist sichtlich erleichtert, Tom zu sehen. »Irgendeine Spur von deinen Regenpfeifern?«, fragt sie ihn im Gehen. In den letzten Jahren ist sie selbst zu einer eifrigen Vogelbeobachterin geworden.
»Nein, heute Morgen nicht«, antwortet er, während Lou weiterhin aus dem Fenster starrt.
Scarlet muss aufs Klo, aber sie möchte den Raum jetzt nicht verlassen. Sie hat aus irgendeinem Grund Angst, Lou und ihren Vater allein zu lassen. Einerseits würde sie zu gern wissen, was die beiden zueinander sagen würden. Andererseits kann sie die Vorstellung nicht ertragen.
»Habt ihr inzwischen das Dilemma gelöst, was wir als Nächstes tun sollen?«, fragt Tom.
Wäre sie allein mit ihrem Vater, denkt Scarlet, würde sie laut auflachen. »Nein, nein«, würde sie sagen, »erst mussten wir über Lou und ihre Probleme sprechen. Wie üblich. Ja, Addie ist tot, und ja, wir müssen uns um ein paar Dinge kümmern, Kleinigkeiten nur, zum Beispiel, ob wir ihren letzten Wunsch respektieren oder einfach das Vernünftigste tun und sie einäschern lassen. Nichts Dringendes. Lous trauriges und verzweifeltes Liebesleben ist selbstverständlich wichtiger.«
Doch im selben Moment weiß sie, dass das nicht fair ist. Wer hätte ahnen können, dass ausgerechnet Lou so etwas wie Schuldgefühle und Verlust wegen einer Fehlgeburt vor über dreißig Jahren empfindet? Damals liebte sie Ted, und wahrscheinlich tut sie das immer noch. Alles, was sie wirklich wollte, war das, was Cora mit Karl hatte und Addie mit Tom.
Aber warum um Himmels willen hast du dir dann einen wie Ted ausgesucht? , möchte Scarlet fragen. Aber sie tut es nicht. Sie weiß, dass sie kein Recht dazu hat. Was hat Liebe schon mit rationaler Entscheidung zu tun?
»Nein«, antwortet Scarlet auf Toms Frage. »Dazu sind wir noch nicht gekommen. Wir haben wohl auf dich gewartet.« Sie lächelt ihren Vater an, der immer noch so gut aussieht, selbst mit seinem ergrauten Haar, dem allmählich etwas hängenden Kinn und dem zwei Tage alten Bart. Er hat eindeutig überhaupt nicht geschlafen.
»Nein?« Er zieht in gespielter Überraschung eine Augenbraue hoch. »Wie geht es dir, Scarlet?«, fragt er dann, während er Marmelade auf ein Brötchen streicht. Er beißt ab und beginnt, Scarlet den Rücken zu reiben. »Hast du wenigstens ein bisschen geschlafen? Du solltest dich ein bisschen ausruhen.«
Lou sieht die beiden durchdringend und neugierig an.
Wahrscheinlich, denkt Scarlet, hat sie es längst erraten. Und dann fällt ihr etwas ein, was Addie letzte Nacht gesagt hat: »Alle Welt vergöttert werdende Mütter. Sieh zu, dass du das ausnutzt.« Sie atmet tief ein, schließt die Augen und lehnt sich zurück in die
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