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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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fromm und gleichzeitig auch zu lustvoll.
    Andererseits hatte es ja auch Ähnlichkeit mit Gott, oder? Und in gewisser Weise auch mit Sex? Wie sie sich damals, als Kind von elf oder zwölf Jahren, allein im Wald gefühlt hatte. Fast zitternd, atemlos, ohne Gefühl für die Zeit oder sich selbst, auf einem verrotteten Baumstamm sitzend, feuchtes Laub riechend, die klamme Luft spürend, auf die Stille horchend.
    Staunen traf es vermutlich besser.
    Wann hatte es aufgehört?
    Als sie Scarlet bekam?
    »Es liegt daran, dass nichts anderes ein solches Wunder ist und jemals sein wird«, sagte Cora.
    Aber Lou verdrehte natürlich die Augen. »Es liegt daran, dass du, sobald du Mutter bist, niemals wieder die Freiheit
hast, über dich selbst nachzudenken, und niemand lässt dich das je vergessen. Was bedeutet, dass es dir niemals wieder möglich ist, dich selbst zu verlieren . Egal, wie viele Jogakurse oder Meditationsveranstaltungen du besuchst. Das könnt ihr mir glauben.«
    Cora widersprach nicht. »Das stimmt, man ist ab dann nie wieder völlig frei«, sagte sie. »Man wird viel zu sehr, viel zu unbedingt gebraucht, und das vergisst man nie.« Arme Cora, die sich so lange selbst die Schuld gab.
    Aber zu sagen, sie hätte das Staunen verloren, hätte nach Scarlets Geburt die Fähigkeit verloren, in etwas vollkommen aufzugehen – im Wald, in ihrer Arbeit –, kam Addie falsch vor, als Erklärung zu simpel, zu sehr die Sprache der Frauenzeitschriften, die sie verabscheute. Man musste sich doch ihre Tochter nur ansehen. Sie war schon mit vier Jahren eine eigenständige Person gewesen – extrem selbständig, aber auch vorsichtig, klug. Interessiert. Addie hatte sich nie Sorgen um Scarlet gemacht. Ihre Erfahrung von Mutterschaft war Welten von Coras entfernt, auch von Lous.
    War es also Tom, der das Staunen mit Wissenschaft erstickte? Ihre Arbeit unter seiner begrub? Eine Zeitlang hatte sie Angst, niemals wieder den Weg zurück zu eigener befriedigender Arbeit zu finden, wenn sie bei Tom bliebe, und von seiner Arbeit, seinen Bedürfnissen, seinen zahlreichen Ansprüchen unterdrückt zu werden. Hatten die Leute nicht von Anfang an Eine Prosodie der Vögel als Toms Buch bezeichnet, obwohl Addies Name vorne auf dem Umschlag genau neben seinem stand und obwohl Tom immer wieder darauf hinwies, dass ihre Bildtafeln mit Abstand das Beste an dem Buch waren?
    War Tom also doch, trotz all der äußeren Gesten der Unterstützung, irgendwie schuld am Verlust ihres Staunens und der
Liebe zu ihrer eigenen Arbeit? Manchmal glaubte sie, es war vielleicht so. Manchmal tat es gut, ihm die Verantwortung zuzuschieben. Sonst hätte sie über andere Dinge nachdenken müssen, über andere mögliche Gründe, warum sie den Anblick einer leeren Leinwand oder auch nur eines Skizzenblocks kaum ertragen konnte.
    Aber natürlich war das auch eine Spur lächerlich. Alles, was er sich wünschte, das beteuerte er ihr unaufhörlich, war, dass sie sich wieder an den Vögeln erfreuen konnte.
    Hin und wieder erfreute sie sich wirklich noch an ihnen. Wurde von einer vertrauten, tröstlichen Wärme umspült, wenn sie den Ruf eines Carolinazaunkönigs oder eines Rotaugenvireos hörte und ihn sofort erkannte. Inzwischen so instinktiv wie Tom. Und war zu einer anderen Art von Wärme, selbst zu einem dankbaren Lächeln fähig, wenn sie im Frühling ihre erste Walddrossel hörte.
    Doch das Problem war, dass im selben Moment, noch bevor sie dieses angenehme Brummen des Erkennens voll auskosten konnte, eine andere Art von Gewissheit hinzukam, eine Stimme, die sie wie eine donnernde, eiskalte Woge traf: Das Brutgebiet dieses Vogels schrumpft, noch während du hier stehst und lauschst. Über kurz oder lang wird den Tieren auch dieser Sekundärwald, dieser Behelfslebensraum, nicht mehr zur Verfügung stehen.
    Und deshalb stellte sich doch die Frage: Warum die Vögel überhaupt zeichnen oder malen? Als eine Art Mahnmal für all diese dümmlich fröhlichen, fernglasbewehrten amerikanischen Freizeitornithologen? Diese Männer und Frauen in ihren Ponchos, die um die längste Liste gesichteter Vogelarten wetteiferten?
    »Addie, du steigerst dich zu sehr hinein«, sagte Tom, als sie ihm einmal zu erklären versuchte, was allzu häufig mit ihr geschah,
wenn sie in ihren Ansitz ging, um zu zeichnen. »Du musst sie alle – Carson, Leopold, Edward Abbey – jetzt mal zur Seite legen. Lies etwas anderes, versuch, die Sache aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Denk daran, es ist

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