Die Luft, die uns traegt
starken, sanften Hände ihres Vaters.
»Danke«, sagt sie. »Das fühlt sich toll an.«
Sie wird gleich aufs Klo gehen, beschließt sie. Aber erst einmal bleibt sie hier still sitzen, lässt sich von ihrem Vater verwöhnen und behält wenigstens ein paar ihrer Geheimnisse für sich, zumindest noch ein Weilchen.
Elf
Addie hatte schon immer zu Stimmungsschwankungen geneigt, zu Anfällen von Traurigkeit, selbst als Kind. Vielleicht war es das, dachte sie manchmal. Vielleicht war sie schwermütig. Vielleicht hatte sie das, was man »Depressionen« nannte. Immer natürlich auf eine bestimmte Art und Weise ausgesprochen – langsam, klagend, die Augen niedergeschlagen, die Lippen zu einem Strich verzogen. Ich habe Depress- io -nen.
Hätte sie auch nur das geringste Vertrauen in westliche Medizin oder Pharmakologie oder Psychologie im weiteren Sinne gehabt, hätte sie sich vielleicht um eine solche Diagnose bemüht. Dann hätte man ihr etwas verschreiben oder ihr Elektroschocks verpassen oder sonst etwas tun können, um ein für alle Mal dafür zu sorgen, dass sie vielleicht niemals wieder irgendetwas von Wert zeichnen oder malen würde. Solange sie sich nur, wenn schon nicht unbedingt fröhlich, dann doch zumindest zufrieden, friedlich, unbeteiligt fühlte. Optimistisch.
Du denkst zu viel , pflegte ihre Mutter zu ihr zu sagen, wenn sie als Kind trübsinnig war. Auch später: Du liest zu viel . Oder: Den ganzen Tag treibst du dich allein im Wald herum – kein Wunder, dass du traurig bist! Warum verbringst du nicht mehr Zeit mit Freunden?
Also hatte sie das getan. Sie war mit Freunden losgezogen,
hatte getanzt und geraucht und sich betrunken, sich mit Jungs abgegeben. Im College hatte sie sich einen festen Freund gesucht, und sie hatte ihm gestattet, sie zu streicheln, und hatte dasselbe für ihn getan. Zu Sex hatten sie es allerdings nie kommen lassen. Das hatte man ihr allseits dringend geraten. Ihr Freund wäre entsetzt (wenn auch entzückt) gewesen, wenn sie so weit gegangen wäre. Mit Sicherheit hätte sie das aus der Kategorie der heiratenswerten Mädchen getilgt.
Sie hatte es nicht als besondere Entbehrung empfunden, auf den endgültigen Geschlechtsakt zu verzichten. Gegen das Küssen und Streicheln hatte sie nicht unbedingt etwas, manchmal genoss sie es sogar. Hauptsächlich aber tat sie es wohl, um ihren Freund bei Laune zu halten. Sie selbst jedoch war am glücklichsten, wenn sie mit Cora und Lou zusammen war. Endloses Gelächter, um Mitternacht Kuchen backen und das ganze Ding aufessen, diskutieren, ob es Gott gibt (Cora, die Naturwissenschaftlerin, sagte natürlich nein, Addie war sich nicht sicher, und Lou täuschte vor, von beiden Antworten schockiert zu sein – wobei Addie immer den Verdacht hatte, dass der Schock echt war).
Dann kamen England, Miss Smallwood, die sie an die Hand nahm, die Flut all dieser neuen Entdeckungen. Und dann Tom. Und Addie fand heraus, was man ihr – und jedem anderen jungen Mädchen – ganz eindeutig alles über Sex vorenthalten wollte. Gefährlich zu erleben, dass es sich so anfühlen konnte – dass auch für sie tiefe, unmöglich zu beschreibende Glücksgefühle bereitgehalten wurden. Gefährlich natürlich nur in den Händen eines Mannes, der weniger vorsichtig, weniger fürsorglich war als Tom. Woher hatte Addie vorbehaltlos, ohne jede Frage von jenem ersten Tag in seinem Kurs an, gewusst, wie vollständig sie ihm vertrauen konnte?
Vielleicht lag es an dem, was er augenblicklich in ihr erkannt
hatte: ihrem Sehnen. Es galt ihm, seinem Körper, sicherlich, daran gab es keinen Zweifel. Als sie sich das erste Mal liebten, auf dem Fußboden der kargen, beinahe verrottenden Hütte, hatte er Angst gehabt, er könnte ihr wehtun. Doch sie hatte keine Sekunde Schmerz gespürt, vielmehr hatte sie singen wollen, lachen, übersprudeln vor Seligkeit – wegen seiner rauen Wangen unter ihren Händen und Lippen, wegen seines festen, drahtigen Körpers, der ihren umschlang, wegen der Art, wie er suchte und suchte, bis er sie fand.
Doch es war mehr als ein körperliches Sehnen, und das hatte er sofort gewusst. Und er, Tom, war es auch gewesen, der ihr das erklärte: Geh allein zurück in den Wald. Du wirst es dort wiederfinden. Und eine Zeitlang hatte sie es wirklich wiedergefunden, das, was auch immer es war, was sie im Wald gespürt hatte, als sie noch jünger war. Es war schwer zu benennen – vielleicht Staunen? Fast eine Art Ekstase? Nein, das Wort war zu aufgeladen – zu
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