Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
Vom Netzwerk:
durchaus möglich beziehungsweise sogar wahrscheinlich, dass der Schaden, der im Laufe der Geschichte durch menschliche Besiedelung angerichtet wurde – wenn du dir das, sagen wir mal, als einen halben Tag statt mehrerer hunderttausend Jahre vorstellst –, dass das Ausmaß dieses Schadens innerhalb eines weiteren halben Tages vollständig rückgängig gemacht werden könnte. Das können wir einfach nach heutigem Kenntnisstand nicht wissen! Warum automatisch vom Schlimmsten ausgehen? «
    »Genau dieser Art von Denken haben wir Agent Orange und Arsen in unserem Trinkwasser zu verdanken«, lautete ihre ruhige, knappe Antwort. Daraufhin verließ Tom den Raum und schlug die Tür hinter sich zu. Er ging in sein Büro, das wusste Addie, um acht Uhr an einem Freitagabend. Scarlet war nebenan bei Peter. Und plötzlich fand Addie es unerträglich, so allein zu sein.
    Du denkst zu viel. Du liest zu viel.
    Um diese Zeit, Scarlet war fast vierzehn, bereisten sie in den Frühlingsferien die Everglades und die Florida Keys.
    Sie hatten, wie es schien, die Watvögel vergessen gehabt. Es wirkte belebend auf sie alle, die Ibisse und Reiher in den Marschen und Gezeitentümpeln zu beobachten und die über den Mangroven aufsteigenden Schlangenhalsvögel. Als sie nach Burnham zurückkamen, rannte Scarlet zu Peter, um ihm ihre neue Sammlung von Muscheln und bunten, geschliffenen Glasscherben zu zeigen. Tom, sonnengebräunt und erholt, stellte seine Unterlagen für einen weiteren Kurs Biologie der Vögel zusammen.

    Und Addie richtete sich in einem leeren Atelier im Kunstinstitut ein, zwei Türen weiter von dem, das sie als Studentin genutzt hatte, weil sie dachte, es täte ihr vielleicht gut, für diesen neuen Versuch aus dem Haus zu kommen, weg vom Bach. Sie begann mit einem von Audubon inspirierten Bild eines Schlangenhalsvogels, und jeden Tag erklomm sie mit Skizzenbüchern und einem Sandwich in ihrem Rucksack den Hügel hinauf zum Campus. Den ganzen Vormittag arbeitete sie, Tag für Tag, nippte an einer Wasserflasche, plagte sich mit dem Hals des Vogels ab, der, wie sie fand, irgendwie an einen Road-Runner -Cartoon erinnerte. Den ganzen Vormittag versuchte sie, das diesige Licht Floridas einzufangen, das irgendwie den Schimmer der Flügel des Männchens sowohl aufhellte als auch trübte, bemühte sich, den Geruch von Salz und Fisch festzuhalten, sich nur um diesen speziellen Duft aus ihrer Erinnerung zu kümmern, um damit den sich um sie herum ausbreitenden Geruch von Staub und Schimmel und Erinnerung zurückzudrängen, dort in diesem winzigen Raum, der nach ihrer Vergangenheit stank, nach einem Ich, dessen sie sich kaum noch entsann, einem, dem sie zwar nicht mehr vertraute, nach dem sie sich aber dennoch sehnte.
    Am Ende brauchte sie fünf Monate, um diesen Schlangenhalsvogel zu malen. Erst in einer heißen Julinacht gelang es ihr, das Problem zu lösen, der Nacht vor ihrer Abreise mit Tom und Scarlet an die Küste von Maine. Sie waren eingeladen worden, einen Monat dort im Haus eines ehemaligen Studenten zu verbringen, der ein begeisterter Vogelbeobachter und leidenschaftlicher Bewunderer der Prosodie der Vögel war.
    Addie konnte sich nicht mehr an die Einzelheiten des Traums erinnern, nur noch an das beklemmende Gefühl, das er zurückließ, als säße jemand auf ihrer Brust und hielte ihr den Mund zu, erstickte sie. Das und die Farben : grelles Pink,

    Grün, Orange, alles in einer Art partikelgetränktem Licht, fluoreszierend oder neonartig vielleicht. Als sie aufwachte, wusste sie sofort: Das waren die Farben Floridas – der Motels am Straßenrand, der T-Shirts und Imbissstände, der provisorischen Geschäfte für Waffen und Feuerwerk. Und dieses erstickende Gefühl: Auch das erkannte sie wieder. Es war das Gefühl, das sie, zuerst auf einer Kanufahrt durch unfassbar verschlungene Mangrovenwurzeln, danach im Morgengrauen in einer kleinen Felsenbucht vor Big Pine Key, beide Male gehabt hatte, als Tom vorschlug, noch einmal ein Forschungsjahr zu nehmen, um es dieses Mal in Florida zu verbringen.
    Sich noch einmal ein Jahr oder auch nur ein Semester in England aufzuhalten, konnten sie sich nicht leisten, zumal – und das war klar, wenn auch unausgesprochen – Tom auf keine finanziell unterstützten Forschungsmöglichkeiten hoffen durfte, da er wieder einmal so voll und ganz mit seinem Unterricht und seiner Datensammlung im Feld beschäftigt gewesen war, dass er seit der Prosodie der Vögel keine Seite veröffentlicht hatte.

Weitere Kostenlose Bücher