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Die Luft, die uns traegt

Die Luft, die uns traegt

Titel: Die Luft, die uns traegt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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hinunter. Sie versucht zu verstehen, was in diesem Raum vor sich geht.
    Für einen Moment öffnet Lou die Augen, reibt sie und lacht bitter. »O mein Gott«, sagt sie. »Ich klinge wie ein bescheuerter Arztroman. Entschuldigt.«
    »Nein, tust du nicht«, sagt Scarlet. Denn ausnahmsweise mal, denkt sie, klingt Lou nicht wie ein billiger Liebesroman. Ausnahmsweise sagt sie einfach nur die Wahrheit. »Erzähl weiter«, sagt sie. »Was ist dann passiert?« Eigentlich würde sie Lou gerne fragen: »Wie bist du von diesem Moment am Strand in die Bitterkeit gerutscht, in der du dich seit Jahren suhlst?« Sie hat ihre eigenen Gründe, das wissen zu wollen.
    Wieder lacht Lou auf. »Tja, irgendwann sind wir eingeschlafen, und als wir aufwachten, war es stockdunkel, und wir hatten keine Ahnung, wo unsere Kleider waren. Nach einer Weile fanden wir sie endlich und gingen in ein kleines Restaurant in der Nähe des Hotels, in dem wir wohnten. Und es war so eigenartig – wir waren auf einmal beinahe schüchtern miteinander. Damals schliefen wir schon jahrelang miteinander, aber uns war beiden klar, dass an diesem Nachmittag etwas anders gewesen war, dass sich etwas geändert hatte. Ich glaube, es hat uns beiden Angst gemacht.
    Am nächsten Morgen standen wir früh auf und gingen in eine Ausstellung uralter Höhlenmalereien in der Nähe. Und da
war eine, die ich niemals vergessen werde, von zwei durch die Luft gleitenden Vögeln, der eine schien den Flügel nach dem anderen auszustrecken, wie ein Liebhaber.
    ›Schau mal, das sind Addie und Tom‹, sagte Ted. Ich lachte, aber dann betrachtete ich das Bild einfach nur ewig lange. Schlagartig hatte ich das Gefühl, zum ersten Mal zu begreifen, was das zwischen den beiden war. Bis dahin hatte ich wohl immer geglaubt, dass Addie nur ein bisschen verliebt war, so wie ich immer verliebt war, und dass Tom sich natürlich geschmeichelt und angezogen von dieser schönen jungen Frau fühlte – wer hätte das nicht? Aber irgendetwas an diesem Erlebnis vom Vortag am Strand und dann an diesen wundervollen, sehnsüchtigen Vögeln … Da war es wieder, dachte ich: Leidenschaft. Es war, als hätte ich es vorher einfach noch nie begriffen.
    In einem kleinen Laden gab es Postkarten zu kaufen, Reproduktionen der Höhlenmalereien, und ich kaufte eine mit dem Bild der beiden Vögel und schickte sie an Addie. Ich glaube, ich schrieb etwas in dem Sinne, dass Ted gemeint hatte, sie erinnerten ihn an sie und Tom. Aus irgendeinem Grund war es mir peinlich, ihr die Wahrheit zu erzählen, ihr zu erzählen, dass ich das Gefühl hatte, etwas an ihr zum ersten Mal verstanden zu haben. Und ich glaube, ich hatte auch Angst. Angst davor, jemandem zu erzählen, was ich für Ted empfand. An diesem Morgen spürte ich eine solche Liebe für ihn, dass es mich erschreckte«, sagt sie und legt eine Hand vor die Augen. »Nichts hat jemals daran herangereicht.«
    Sie lässt die Hand auf den Mund sinken, ihr Blick ist beinahe verängstigt. Scarlet überlegt krampfhaft, was sie sagen könnte – Lou sieht aus, als bräuchte sie jetzt Trost, obwohl Scarlet nicht ganz sicher ist, warum, und ihr absolut nichts Passendes einfällt –, doch da nimmt Lou die Hand wieder weg und spricht weiter.

    »An dem Tag wurde ich schwanger. Ich habe es ungefähr sechs Wochen lang gar nicht bemerkt, und als ich es dann doch merkte, hatte ich zwei Tage später einen Abgang.«
    »Lou …« Coras Stimme ist ein Flüstern, dann legt sie die Hand auf den Mund.
    Lou sieht Cora an und lacht kurz auf. »Kannst du das fassen? Du und Addie seid gerade dabei, eure Familien zu gründen und euch niederzulassen, und auf der anderen Seite der Welt benehme ich mich wie eine naive Sechzehnjährige oder so was, sehe einfach großzügig darüber hinweg, dass ich natürlich an jenem Nachmittag mein Diaphragma nicht dabeihatte. Und trinke und rauche Dope und bumse durch die Gegend wie immer, als hätte sich nichts geändert, weil mir niemals der Gedanke gekommen wäre, dass es so sein könnte.«
    Sie schüttelt den Kopf, putzt sich dann die Nase und lächelt kleinlaut. »Ted war wirklich süß damals. ›Es ist besser so, Lou‹, sagte er zu mir. Aber da war etwas in seinen Augen – ich sah ihm an, dass ihn das Ganze sehr mitgenommen hatte. Und ich weiß, dass er mir die Schuld gab.«
    Sie betupft sich die Augenwinkel mit dem Taschentuch. »Bis heute frage ich mich, ob alles anders gekommen wäre. Wenn ich es bemerkt hätte, meine ich. Und wenn wir das Baby

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