Die Luna-Chroniken, Band 1: Wie Monde so silbern (German Edition)
Südflügel, als wären das Klirren der Gläser und die Orchestermusik nicht eindeutig genug. Der Weg zum Eingang des Ballsaals kam Cinder lang und beschwerlich vor. Sie wusste nicht, ob die Wächter sie mit ihren stoischen Blicken musterten, als sie mit nassen, schmatzenden Stiefeln an ihnen vorbeiging, aber sie traute sich auch nicht, ihnen in die Augen zu sehen. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt dem Klumpen von einem Fuß.
Anmutig sein. Anmutig sein. Anmutig sein .
Die Musik wurde lauter. Der Saal war mit Dutzenden kunstvoller Steinstatuen längst vergessener Göttinnen und Götter geschmückt. Überall lauerten versteckte Kameras und verborgene ID-Scanner. Ein Anflug von Verfolgungswahn überfiel sie, als sie daran dachte, dass sie noch immer Peonys ID-Chip in ihrem Wadenfach aufbewahrte. Sie stellte sich vor, wie Alarm ausgelöst würde, sobald auffiel, dass sie zwei ID-Chips bei sich trug – was zumindest verdächtig, wenn nicht sogar illegal war –, aber es passierte nichts.
Der Flur führte zu einer herrschaftlichen Treppe, die sich in den Ballsaal hinabwand. Sie war von Wächtern und Dienern flankiert, deren Gesichter so undurchdringlich waren wie die der Wächter im Flur. Die hohe Decke war mit Hunderten von purpurroten Papierlaternen geschmückt, die ein warmes, goldenes Licht verbreiteten. Die hintere Wand bestand aus raumhohen Fenstern, die auf den Garten hinausgingen. Der Regen schlug so laut gegen die Scheiben, dass er das Orchester fast übertönte.
Die Tanzfläche war von runden Tischen umgeben, auf denen Orchideengestecke und Jadeskulpturen standen. Die Wände schmückten Seidenschirme mit Bildern von Kranichen, Schildkröten und Bambuspflanzen, den Symbolen für ein langes Leben, die alle nur eine Botschaft vermitteln sollten: Lang lebe der Kaiser.
Von ihrem Aussichtspunkt konnte sie den ganzen Saal überblicken, der vor Seide und Reifröcken, vor Strass und Pfauenfedern nur so wogte. Sie suchte nach Kai.
Er war nicht schwer zu finden – er tanzte. Die Menge teilte sich für ihn und seine Partnerin, die schönste, anmutigste, göttlichste Frau im Saal: die Königin von Luna. Bei ihrem Anblick konnte Cinder ihre Bestürzung nicht unterdrücken.
Ihr drehte sich der Magen um, und aus ihrer flüchtigen Ehrfurcht wurde Abscheu. Die Königin lächelte selbstsicher, aber Kai stierte während ihres Walzers über den Marmorboden kalt wie ein Stein vor sich hin.
Cinder trat einen Schritt zurück, bevor die Königin sie bemerken konnte. Sie ließ den Blick über die Menge schweifen und war überzeugt, dass Kai seine Ankündigung noch nicht gemacht hatte, sonst wäre die Atmosphäre sicher nicht so fröhlich gewesen. Kai ging es gut. Noch war er in Sicherheit. Sie musste nur eine Möglichkeit finden, ihn unter vier Augen zu sprechen. Ihm zu erzählen, dass die Königin alles über seine Suche nach ihrer Nichte wusste. Dann wäre es an ihm, die Forderungen der Königin zurückzustellen bis …
Cinder wusste genau, dass Königin Levana sich nicht ewig hinhalten lassen würde, ohne den Krieg zu beginnen, mit dem sie schon so lange drohte.
Aber vielleicht, ganz vielleicht, konnte Prinzessin Selene ja gefunden werden, bevor das passierte.
Cinder atmete aus, trat unter dem massiven Portal hindurch und versteckte sich hinter der erstbesten Säule. Sie stolperte über ihren winzigen Fuß, biss die Zähne aufeinander und sah sich um. Aber Wächter und Diener in ihrer Nähe verhielten sich so neutral wie die Wände.
Cinder presste sich an die Säule und glättete ihre Haare, um wenigstens so zu tun, als würde sie hierhergehören.
Die Musik verstummte und die Menge applaudierte.
Sie traute sich, auf die Tanzfläche zu blicken, und sah, wie Kai und Levana in unterschiedliche Richtungen auseinandergingen – er mit einer steifen Verbeugung, sie mit der Anmut einer Geisha. Als das Orchester wieder einsetzte, tanzte der ganze Saal.
Cinder verfolgte, wie die Königin mit ihren wippenden brünetten Locken auf eine Treppe am anderen Ende des Saals zusteuerte. Die Menge teilte sich bereitwillig vor ihr. Dann suchte sie wieder nach Kai. Er bewegte sich in die entgegengesetzte Richtung – genau auf sie zu.
Sie hielt den Atem an und löste sich ganz allmählich aus dem Schutz der Säule. Dies war ihre Chance. Wenn er nur zu ihr hochsehen würde. Wenn er nur weiter auf sie zukommen würde. Dann könnte sie ihm alles sagen und in die Nacht entschwinden – und niemand würde je erfahren, dass sie dort gewesen
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