Die Luna-Chroniken, Band 1: Wie Monde so silbern (German Edition)
was?«
Er tippte etwas in seinen Portscreen. Dann sah er sich nach Cinder um. Er musterte sie noch einmal, als könnte er nicht glauben, was er nun zu tun hatte, aber diesmal lächelte er höflich dabei. »Alle Ehrengäste Seiner Majestät werden offiziell angekündigt, um ihnen Respekt zu erweisen. Allerdings kommen sie normalerweise nicht so … spät.«
»Warten Sie. Ehrengäste von … Oh! Nein, nein, Sie müssen mich nicht …«
Die Trompetenfanfare, über unsichtbare Lautsprecher eingespielt, brachte sie zum Schweigen. Ihre Augen weiteten sich, als die kurze Melodie verklang. Beim letzten Fanfarenstoß dröhnte eine sonore Stimme durch den Ballsaal.
»Bitte heißen Sie einen Ehrengast Seiner Kaiserlichen Majestät auf dem 126. Ball des Asiatischen Staatenbundes willkommen: Linh Cinder aus Neu-Peking.«
34
Die Temperatur im Ballsaal schien zu steigen, als Hunderte Augenpaare Cinder anstarrten.
Die Aufmerksamkeit der Menge hätte sich wahrscheinlich gleich wieder anderen Dingen zugewandt, wenn der Ehrengast des Kaisers nicht ein Mädchen mit feuchten Haaren und Matschspritzern am Saum ihres zerknüllten silbernen Kleides gewesen wäre. Doch die Blicke nagelten Cinder dort oben an der Treppe fest. Ihr viel zu kleiner Fuß klebte am Treppenabsatz, als sei er in Zement gegossen.
Kai betrachtete sie ungläubig von Kopf bis Fuß.
Er hatte die ganze Zeit gehofft, dass sie kommen würde. Er hatte ihr einen Platz an seinem Tisch reserviert. Sie konnte sich gut vorstellen, wie sehr er diese Entscheidung jetzt bereute.
Unter den schimmernden Lüstern brannten Pearls Wangen. Als Cinder sah, wie gedemütigt ihre Stiefschwester und Adri sich fühlten, musste sie sich zum Atmen zwingen.
Es war sowieso zu spät.
Höchstwahrscheinlich hatte Pearl Kai erzählt, dass sie ein Cyborg war.
Gleich würde Königin Levana sie entdecken und sehen, dass sie Lunarierin war. Man würde sie festnehmen, vielleicht sogar töten. Sie würde nichts dagegen tun können.
Aber sie hatte das Risiko auf sich genommen. Sie hatte sich zum Kommen entschieden.
Das sollte nicht umsonst gewesen sein.
Sie nahm die Schultern zurück. Hob das Kinn.
Raffte den weiten Rock, fixierte Kai und schritt langsam die Treppe hinunter.
Obwohl er sie freundlich ansah, konnte sie erkennen, dass er belustigt war, als könnte nur eine bekannte Mechanikerin so zerlumpt auf einem Ball aufkreuzen.
Ein Raunen ging durch die Menge und als sie auf den hohen Stiefeln über den Marmorboden stöckelte, teilte sich das Meer aus Festroben. Frauen tuschelten hinter vorgehaltener Hand. Männer reckten die Hälse, um bloß nichts zu verpassen.
Sogar die Diener blieben stehen, um ihr hinterherzusehen, Tabletts mit Delikatessen hoch über ihren Köpfen erhoben. Es roch so intensiv nach Ingwer und Knoblauch, dass Cinder schwindelig wurde. Plötzlich merkte sie, wie ausgehungert sie war. Die Vorbereitungen auf die Flucht hatten ihr wenig Zeit zum Essen gelassen, und nun war sie vor Hunger und Angst kurz davor, ohnmächtig zu werden. Sie gab ihr Bestes, beides zu ignorieren und stark zu sein, aber trotzdem wurde sie mit jedem Schritt ihrer angespannten Muskeln nervöser. Ihre Herzschläge dröhnten ihr wie Trommeln im Kopf.
Alle Blicke folgten ihr missgünstig. Der ganze Saal tuschelte, und schon wurden erste Gerüchte in die Welt gesetzt. Cinder schnappte Bruchteile von Unterhaltungen auf – Ein Ehrengast? Aber wer ist das? Und was ist das auf ihrem Kleid? –, bis sie ihre Audio-Schnittstelle herunterdrehte und das Gerede ausblendete.
Nie in ihrem Leben war sie so froh darüber gewesen, dass sie nicht rot werden konnte.
Kais Mundwinkel hoben sich fast unmerklich. Er wirkte zwar immer noch verdutzt, aber offensichtlich war er weder ärgerlich noch abgestoßen von ihr. Cinder musste schlucken. Als sie näher kam, hätte sie sich am liebsten hinter ihren eigenen Armen versteckt. Sie wollte ihr schmutziges, zerknülltes, durchnässtes Kleid verbergen, aber sie ließ es bleiben. Es wäre sinnlos gewesen, und Kai schien ihr Kleid sowieso nicht zu interessieren.
Er versuchte wahrscheinlich gerade herauszufinden, wie viel von ihr aus Metall und Silikon bestand.
Sie hielt den Kopf hoch erhoben, selbst als ihre Augen anfingen zu brennen, selbst als Warnungen und Vorsichtsmaßnahmen gegen die aufsteigende Panik auf ihrem Sichtfeld erschienen.
Es war nicht ihre Schuld, dass er sie mochte.
Es war auch nicht ihre Schuld, dass sie ein Cyborg war.
Sie würde sich nicht
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