Die Luna-Chroniken, Band 1: Wie Monde so silbern (German Edition)
haben die einzigartige Fähigkeit, diese Energie in anderen nicht nur zu bemerken, sondern sie auch nutzen zu können. Sie können sie so manipulieren, dass Menschen das sehen und sogar fühlen, was die Lunarier wollen. Was sie Zauber nennen, ist ihre Illusion von sich selbst, die sie in die Gehirne von anderen projizieren.«
»Sie lassen also andere glauben, dass sie schöner sind als in Wirklichkeit?«
»Genau so. Oder …« Er deutete auf Cinders Hand. »Oder sie lassen andere Haut statt Metall sehen.«
Cinder rieb sich verlegen die Cyborg-Hand durch den Handschuh.
»Deswegen sieht Königin Levana so umwerfend aus. Begabte Lunarier wie die Königin halten diese Illusion rund um die Uhr aufrecht. Aber sie kann weder Bildschirme noch Spiegel austricksen.«
»Sie mögen also keine Spiegel, weil sie sich selbst nicht gerne ansehen?«
»Ja, Eitelkeit spielt durchaus eine Rolle, aber es geht ihnen eher um Kontrolle. Es ist leichter, anderen vorzumachen, dass man schön ist, wenn man selbst davon überzeugt ist. Aber Spiegel sagen einem auf eine unheimliche Art die Wahrheit.« Dr. Erland sah sie an, als würde er sich amüsieren. »Und jetzt würde ich Sie gerne etwas fragen, Linh-mèi. Woher kommt Ihr plötzliches Interesse an den Lunariern?«
Cinder fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, sah auf ihre Hände hinab und bemerkte, dass sie noch immer den Stift hielt, den sie von seinem Schreibtisch genommen hatte.
»Es war etwas, was Kai gesagt hat.«
»Seine Hoheit?«
Sie nickte. »Er hat mir erzählt, dass Königin Levana nach Neu-Peking kommt.«
Der Arzt wich einen Schritt zurück und starrte sie unter den buschigen Augenbrauen hervor an, die fast an den Schirm seiner Mütze stießen. Dann lehnte er sich gegen die Schrankwand. Zum ersten Mal an diesem Tag widmete er ihr all seine Aufmerksamkeit. »Wann?«
»Sie soll heute ankommen.«
»Heute?«
Sie fuhr zusammen. Sie hätte nicht gedacht, dass Dr. Erland auch laut werden konnte. Er drehte sich um, kratzte sich am Kopf und dachte nach.
»Was ist?«
Er winkte ab. »Wahrscheinlich hat sie nur darauf gewartet.« Als er die Mütze abnahm, sah sie eine kahle Stelle, umringt von dünnem, zerzaustem Haar. Er raufte sich die Haare und stierte vor sich hin. »Sie hofft auf Kai als Beute. Er ist jung und unerfahren.« Er schnaufte wütend und setzte die Mütze wieder auf.
»Was meinen Sie mit Beute?«
Er sah angespannt aus, und seine Augen ließen erkennen, wie aufgeregt er war. Er sah Cinder so durchdringend an, dass sie zurückschreckte.
»Um den Prinzen brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, Linh-mèi.«
»Nein?«
»Kommt sie heute? Hat er Ihnen das wirklich gesagt?«
Sie nickte.
»Dann müssen Sie so schnell wie möglich verschwinden. Sie dürfen nicht hier sein, wenn sie eintrifft.«
Er scheuchte sie vom Tisch. Cinder hüpfte herunter, machte aber keine Anstalten zu gehen. »Was hat das mit mir zu tun?«
»Wir haben Ihre Blutproben und Ihre DNA. Im Moment können wir ohne Sie weitermachen. Halten Sie sich vom Palast fern, bis sie wieder fort ist. Haben Sie verstanden?«
Cinder baute sich breitbeinig vor ihm auf. »Nein.«
Der Arzt sah von ihr zum Bildschirm, auf dem noch immer ihre Akte aufgerufen war. Er machte einen verwirrten Eindruck, sah alt und erschöpft aus. »Screen, die aktuelle Berichterstattung bitte.«
Cinders Akte verschwand. Ein Nachrichtensprecher erschien. Der durchlaufende Nachrichtenticker über ihm gab den Tod des Kaisers bekannt. »… Hoheit wird in einigen Minuten über den Tod Seiner Kaiserlichen Majestät und seine bevorstehende Krönung zu Ihnen sprechen. Wir übertragen seine Ansprache live …«
»Stumm schalten.«
Cinder verschränkte die Arme. »Doktor?«
Er sah Cinder flehend an. »Linh-mèi, Sie müssen mir jetzt ganz genau zuhören.«
»Ich werde meine Audio-Schnittstelle auf maximale Lautstärke drehen.« Sie lehnte sich an die Einbauschränke und war enttäuscht, dass Dr. Erland noch nicht einmal über ihre Selbstironie schmunzelte.
Stattdessen seufzte er verdrossen. »Ich weiß nicht, wie ich es Ihnen erklären soll. Ich dachte, ich hätte noch etwas mehr Zeit.« Er rieb sich die Hände und ging zur Tür. Nahm die Schultern zurück und sah Cinder direkt an. »Bei der Operation waren Sie elf, stimmt’s?«
Diese Frage hatte sie nicht erwartet. »Ja …«
»Und an alles, was davor war, erinnern Sie sich nicht mehr, oder?«
»Nein, an gar nichts. Und was hat das mit …«
»Aber Ihre
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