Die Luna-Chroniken, Band 1: Wie Monde so silbern (German Edition)
geworden und enthielt vieles, was Cinder noch nicht kannte.
»Und in der Quarantänestation habe ich etwas gesehen«, sagte sie.
Der Arzt grummelte vor sich hin und konzentrierte sich auf den Bildschirm.
»Ein Medidroide hat einer Patientin den ID-Chip entfernt. Nachdem sie gestorben war. Er sagte, dass er so programmiert sei. Er hatte schon Dutzende.«
Dr. Erland sah sie ziemlich gleichgültig an. Er schien eine Weile darüber nachzudenken, dann sagte er gelassen: »Tja.«
»Was, tja? Warum tut er das?«
Der Arzt kratzte sich den dünnen Bart. »Das ist in den ländlichen Teilen der Welt – wo Letumose schon viel länger wütet als in den Städten – ein weitverbreiteter Brauch. Die Chips werden den Verstorbenen entnommen und verkauft. Das ist natürlich illegal, aber man bekommt einen hohen Preis dafür.«
»Warum sollte irgendwer einen fremden ID-Chip kaufen?«
»Weil man ohne Chip Schwierigkeiten hat, sein Leben zu organisieren – für Bankkonten, Unterstützungszahlungen und Ausweise braucht man eine Identität.« Er runzelte die Augenbrauen. »Obwohl das eine interessante Frage ist. Bei all den Sterbefällen durch Letumose in den vergangenen Jahren sollte man denken, dass der Markt inzwischen von ID-Chips gesättigt ist. Es ist merkwürdig, dass es immer noch eine Nachfrage gibt.«
»Ich weiß, aber wenn man doch schon eine …« Sie unterbrach sich, um seine Worte zu überdenken. War es wirklich so leicht, die Identität eines anderen anzunehmen?
»Man braucht einen Chip, wenn man jemand anders sein will«, sagte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Diebe. Kriminelle.« Der Arzt rieb sich durch die Mütze hindurch den Kopf. »Ab und an ein versprengter Lunarier. Die ja gar keine ID-Chips haben.«
»Es gibt keine Lunarier auf der Erde. Mal von den Botschaftern abgesehen.«
Dr. Erland sah sie mitleidig an wie ein naives Kind. »Oh, doch. Zu Königin Levanas unendlichem Ärger lassen sich nicht alle Lunarier so leicht durch eine Gehirnwäsche in einen Zustand stumpfsinniger Zufriedenheit versetzen. Viele haben ihr Leben riskiert, um von Luna zu flüchten und hier zu leben. Es ist schwer, den Mond zu verlassen. Viele Lunarier sterben dabei, nur wenige erreichen ihr Ziel, vor allem weil die Häfen von Luna immer stärker überwacht werden. Trotzdem bin ich sicher, dass es noch immer geschieht.«
»Aber … das ist doch illegal. Sie sollten eigentlich gar nicht hier sein. Warum wird das nicht verhindert?«
Einen Moment lang sah es aus, als wollte Dr. Erland lachen. »Die Flucht von Luna ist schwer – doch auf die Erde zu gelangen, ist noch das Leichteste daran. Lunarier können ihre Raumschiffe tarnen und unbemerkt in die Erdatmosphäre gelangen.«
Magisch. Cinder rutschte auf dem Tisch herum. »Bei Ihnen hört sich das an, als ob die Lunarier aus einem Gefängnis fliehen würden.«
Dr. Erland zog die Augenbrauen hoch. »Ja. Das trifft es genau.«
Cinder trat gegen den Labortisch. Bei der Vorstellung, dass Königin Levana nach Neu-Peking kam, war ihr übel geworden – aber bei der Vorstellung von Dutzenden, vielleicht sogar Hunderten von Lunariern, die auf der Erde lebten und sich als Erdbewohner ausgaben, musste sie sich fast übergeben. Diese Wilden – ausgestattet mit einem programmierten ID-Chip und ihrer Fähigkeit zur Gehirnwäsche konnten sie jeder sein und zu jedem werden.
Und die Erdbewohner würden nie merken, dass sie manipuliert wurden.
»Sie müssen keine Angst haben, Linh-mèi. Die meisten leben auf dem Land, wo sie eher unbemerkt bleiben. Die Chance, dass Sie je einem von ihnen über den Weg gelaufen sind, ist sehr gering.« Er grinste sie spöttisch an.
Cinder richtete sich auf. »Sie scheinen jedenfalls viel über sie zu wissen.«
»Ich bin ein alter Mann. Ich weiß eine Menge Dinge.«
»Na gut, ich habe eine Frage. Was hat es mit den Lunariern und den Spiegeln auf sich? Ich habe es immer für ein Märchen gehalten, dass sie Angst vor ihnen haben, aber … vielleicht stimmt es ja?«
Der Arzt runzelte die Stirn. »Es ist etwas dran. Wissen Sie, wie die Lunarier ihre Gabe nutzen?«
»Eigentlich nicht.«
»Also«, sagte er und wippte vor und zurück, »die Gabe der Lunarier bedeutet eigentlich nur, dass sie bioelektrische Energie manipulieren können – die Energie, die von allen Lebewesen ausgeht. Haie nutzen sie zum Beispiel zum Aufstöbern ihrer Beute.«
»Hört sich ganz nach Lunariern an.«
Die Lachfalten des Arztes vertieften sich. »Lunarier
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