Die Luna-Chroniken, Band 1: Wie Monde so silbern (German Edition)
hielt dem Druck der Menge stand. »Nur die Androidin.«
»Aber wir gehören zusammen!«, brüllte sie gegen die Sprechchöre an.
»Kein Pass, kein Einlass.«
»Aber ich habe sie repariert! Ich muss sie persönlich abgeben. Ich muss … mein Geld abholen.«
»Schicken Sie eine Rechnung, wie alle anderen auch«, sagte der Mann. »Ohne gültigen Pass wird niemand eingelassen.«
»Linh-mèi«, rief Nainsi von der anderen Seite des eisernen Tors. »Ich teile Prinz Kai mit, dass Sie ihn sehen wollen. Dann schickt er Ihnen bestimmt einen offiziellen Pass per Tele.«
Cinder wurde klar, wie albern sie sich verhielt. Natürlich musste sie den Prinzen nicht unbedingt sehen. Sie hatte die Androidin abgegeben und damit war ihr Job erledigt. Außerdem hatte sie sowieso nicht vor, ihm ihre Arbeit in Rechnung zu stellen. Aber Nainsi hatte sich schon umgedreht und rollte auf den Haupteingang des Palastes zu, ehe Cinder sie zurückhalten konnte. Jetzt war es an ihr, sich eine vernünftige Erklärung auszudenken, warum sie Kai denn nun so dringend sehen musste. Und die musste besser sein als die sehr dumme, sehr kindische, die ihr zuerst in den Kopf geschossen war. Dass sie ihn einfach sehen wollte.
Die Sprechchöre waren auf einmal verstummt. Cinder sah sich um.
Das Schweigen der Menge hatte etwas auf der Straße entstehen lassen, das wie ein Vakuum danach verlangte, mit Atem, mit Geräuschen, mit irgendetwas gefüllt zu werden. Cinder sah überall um sich geblendete Gesichter, dem Palast zugewandt, und gesenkte Schilder in willenlosen Händen. Kalt kroch ihr die Angst die Wirbelsäule hoch.
Sie folgte den Blicken der Menschenmenge zu einem Balkon, der aus einem der obersten Stockwerke herausragte.
Dort stand die Königin von Luna, eine Hand an der Hüfte, die andere auf dem Balkongeländer. Ihr Gesichtsausdruck war finster, aber das änderte nichts an ihrer unheimlichen Schönheit. Selbst von weitem sah Cinder das Leuchten ihrer blassen Haut und ihrer rubinroten Lippen. Aus dunklen Augen blickte sie auf die verstummte Menge. Cinder schreckte vom Tor zurück und hätte sich gern hinter den leeren Gesichtern der Menge versteckt.
Aber Angst und Schrecken währten nicht lange. Diese Frau war doch gar nicht furchterregend, sie war nicht gefährlich.
Sie begrüßte sie herzlich. Sie sollte ihre Königin werden. Sie sollte sie regieren, leiten und beschützen …
Auf Cinders Netzhaut-Display blitzte eine Warnung auf. Vergeblich versuchte sie, sie wegzuzwinkern, denn die Ablenkung verärgerte sie. Sie wollte die Königin ungestört ansehen und sie sprechen hören. Über Frieden und Sicherheit, Reichtum und Wohlergehen.
Am Rand ihres Sichtfeldes leuchtete das orangefarbene Licht auf. Cinder brauchte eine Weile, bis ihr klar wurde, was das zu bedeuten hatte. Sie wusste, dass es unangebracht und sinnlos war.
Lügen.
Sie schloss die Augen. Als sie wieder hochsah, war die Illusion des Guten verschwunden. Das süße Lächeln der Königin war hochmütig und herrschsüchtig geworden. Cinder drehte sich der Magen um.
Sie manipulierte die Menge.
Sie hatte Cinder manipuliert.
Cinder stolperte rückwärts und rempelte einen Mann mittleren Alters an, der völlig von Sinnen zu sein schien.
Sofort sah die Königin herüber und nahm Cinder ins Visier. Überraschung stand ihr ins Gesicht geschrieben. Dann Hass. Und Abscheu.
Cinder erschrak. Kalte Finger legten sich um ihr Herz. Sie sollte weglaufen, doch ihre Beine verweigerten ihr den Dienst. In ihrem Sichtfeld tauchten wirre Linien auf, als könnte es den Zauber der Königin keinen Moment länger ertragen.
Sie fühlte sich nackt und verletzlich, so ganz allein in der gehirngewaschenen Menge. Bestimmt würde sich gleich die Erde auftun, um sie zu verschlucken. Oder der Blick der Königin würde sie in ein Häuflein Asche auf dem Kopfsteinpflaster verwandeln.
Die Königin sah sie immer finsterer an, bis Cinder befürchtete, in Tränen auszubrechen, Tränenkanäle hin oder her.
Aber dann wirbelte die Königin herum und rauschte erhobenen Hauptes in den Palast.
Jetzt, da die Königin gegangen war, erwartete Cinder, dass die Menge ihren Protest wieder aufnehmen würde, wütender noch als zuvor, weil sie es gewagt hatte, sich zu zeigen. Aber das taten sie nicht. Mit schlafwandlerischer Langsamkeit begann die Menge sich aufzulösen. Wer Schilder hatte, ließ sie auf den Boden fallen, wo sie kaputt getrampelt oder liegen gelassen wurden. Cinder quetschte sich an die Palastwand, weg von
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