Die Luna-Chroniken, Band 1: Wie Monde so silbern (German Edition)
Atemzüge. Zählen: 1, 2, 3 …
»Bitte beruhigen Sie sich. Eigentlich trifft es sich sehr gut, dass man Sie für das Einsetzen dieses Schlosses ausgesucht hat.«
»Klar. Ich finde es einfach super, wie ein Versuchskaninchen behandelt zu werden!«
»Ob es Ihnen nun gefällt oder nicht, das Schloss ist für Sie schon von großem Nutzen gewesen.«
»Ach ja?«
»Wenn Sie aufhören würden, mich anzuschreien, könnte ich es Ihnen erklären.«
Sie biss sich auf die Unterlippe und spürte, wie ihr Atem fast gegen ihren Willen regelmäßiger wurde. »Gut, aber sagen Sie mir die Wahrheit.« Sie verschränkte die Arme und setzte sich wieder hin.
»Manchmal sind Sie schon ziemlich nervtötend.« Dr. Erland seufzte und kratzte sich an der Schläfe. »Wissen Sie, Bioelektrizität zu manipulieren, ist für Lunarier so normal, dass sie sich praktisch nicht zurückhalten können, sie zu nutzen, vor allem wenn sie jung sind. Hätte man Sie sich selbst überlassen, hätten Sie viel zu viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Da hätte man Ihnen gleich ›Lunarierin‹ auf die Stirn tätowieren können. Und selbst wenn Sie gelernt hätten, die Gabe zu kontrollieren: Sie ist so ein fundamentaler Teil unseres Erbgutes, dass es verheerende psychologische Nebenwirkungen haben kann, wenn man versucht, sie zu unterdrücken – Halluzinationen, Depressionen … sogar Wahnsinn.« Er presste die Fingerkuppen aufeinander und wartete. »Verstehen Sie? Dass man Ihrer Gabe einen Riegel vorgeschoben hat, hat Sie in vielerlei Hinsicht vor sich selbst geschützt.«
Cinder durchbohrte ihn fast mit Blicken.
»Begreifen Sie nun, dass beide Seiten etwas davon hatten?«, fuhr der Arzt fort. »Linh Garan hatte seine Probandin, und Sie konnten sich an die Erdbewohner anpassen, ohne den Verstand zu verlieren.«
Cinder lehnte sich ganz langsam vor. »Unseres?«
»Wie bitte?«
» Unseres . Sie haben gesagt, die Gabe sei ein fundamentaler Teil unseres Erbgutes.«
Der Arzt stand auf und nestelte am Kragen seines Kittels herum. »Ah. Habe ich das gesagt?«
»Sie sind Lunarier.«
Er nahm die Schirmmütze ab und warf sie auf den Schreibtisch. Ohne sie wirkte er kleiner. Und älter.
»Lügen Sie mich nicht an.«
»Das hatte ich gar nicht vor. Ich habe nur überlegt, wie ich es Ihnen so erklären kann, dass Sie mich nicht mehr so anklagend ansehen.«
Cinder schloss den Mund und sprang vom Stuhl auf. Aus einiger Entfernung vom Schreibtisch starrte sie ihn unverwandt an, als könnte tatsächlich jederzeit das Wort »Lunarier« auf seiner Stirn erscheinen. »Wie soll ich Ihnen noch irgendetwas glauben? Woher soll ich wissen, dass Sie mich nicht gerade einer Gehirnwäsche unterziehen?«
Er zuckte die Achseln. »Wenn ich den ganzen Tag Leute manipulieren würde, dann würde ich mich ja wohl wenigstens größer erscheinen lassen!«
Sie runzelte die Stirn und beachtete ihn nicht weiter. Sie dachte daran, wie ihre Optobionik sie vor einer Lüge gewarnt hatte, als die Königin auf dem Balkon gestanden hatte, obwohl sie gar nichts gesagt hatte. Irgendwie konnte ihr Gehirn den Unterschied zwischen Realität und Illusion feststellen, selbst wenn es ihren Augen nicht gelang.
Sie fuchtelte mit dem Zeigefinger vor dem Arzt herum. »Bei unserer ersten Begegnung haben Sie Ihr Gehirn benutzt, um mich zu manipulieren. Genau wie die Königin. Sie haben mich dazu gebracht, Ihnen zu vertrauen.«
»Bleiben Sie fair. Sie waren im Begriff, mich mit einem Schraubenschlüssel anzugreifen.«
Ihr Ärger verflog.
Dr. Erland hob ratlos die Hände. »Ich versichere Ihnen, Linh-mèi: In den zwölf Jahren, die ich auf der Erde bin, habe ich meine Gabe nicht ein einziges Mal missbraucht, und den Preis für diese Entscheidung zahle ich täglich. Denn das geht nur auf Kosten meiner psychischen Stabilität und Gesundheit, sogar meine Sinne lassen mich im Stich, weil ich mich weigere, Gedanken und Gefühle der Menschen zu manipulieren. Nicht alle Lunarier sind vertrauenswürdig – ich weiß das so gut wie jeder andere –, aber mir können Sie vertrauen.«
Cinder schluckte und stützte sich auf die Lehne des Stuhls. »Weiß Kai Bescheid?«
»Natürlich nicht. Niemand darf es wissen.«
»Aber Sie arbeiten im Palast. Sie sehen Kai dauernd. Und Kaiser Rikan!«
Dr. Erland sah sie irritiert aus seinen blauen Augen an. »Ja, und warum macht Sie das so wütend?«
»Weil Sie ein Lunarier sind!«
»Genau wie Sie. Sollte ich mir Sorgen um die Sicherheit des Prinzen machen, weil
Weitere Kostenlose Bücher