Die Luna-Chroniken, Band 1: Wie Monde so silbern (German Edition)
enttäuscht. »Selbstverständlich. Wann immer Sie bereit sind.«
»Doktor?«, fragte sie zögerlich.
»Ja?«
»Sie sind immun gegen Letumose, genau wie ich, oder?«
Dr. Erland hielt ihrem Blick unerschrocken stand. »Ja.«
»Und warum haben Sie dann nicht Ihr eigenes Blut genutzt, um ein Gegenmittel zu finden? So viele Menschen sind gestorben … Und die ganzen eingezogenen Cyborgs …«
Sein Gesicht glättete sich. »Das habe ich natürlich getan. Was glauben Sie, wo die siebenundzwanzig Gegenmittel, die wir bereits ausprobiert haben, hergekommen sind?«
»Und keins von ihnen hat gewirkt.« Sie zog die Füße unter den Stuhl und fühlte sich wieder klein und unbedeutend. »Also ist meine Immunität gar nicht so ein Wunder, wie Sie vorgegeben haben.« Sie betrachtete das Röhrchen. Das Gegenmittel der Königin.
»Linh-mèi.«
Er funkelte Cinder mit demselben kaum verhohlenen Leichtsinn an wie bei ihrer ersten Begegnung.
»Sie sind das Wunder, nach dem ich gesucht habe«, sagte er. »Aber Sie haben Recht. Es ist nicht wegen Ihrer Immunität.«
Cinder starrte ihn an und wartete auf eine Erklärung. Was könnte denn jetzt noch besonders an ihr sein? Hatte er vielleicht nach Linh Garans Protoyp mit dem genialen Zauberschloss gesucht?
Mit einem Ping kündigte sich eine neue Tele an, bevor der Arzt fortfahren konnte. Sie schreckte hoch und wandte sich ab, als eine grüne Nachricht über ihr Sichtfeld flimmerte.
Tele aus Neu-Pekings Distrikt 29, Letumose-Quarantänestation. Linh Peony hat um 17:24 das vierte Stadium der Letumose erreicht.
»Linh-mèi?«
Ihre Finger zitterten. »Meine Schwester hat das vierte Stadium erreicht.« Sie fixierte das Röhrchen auf Dr. Erlands Schreibtisch.
Er folgte ihrem Blick. »Ich verstehe«, sagte er. »Das vierte Stadium dauert nicht lange. Jetzt gilt es, keine Zeit mehr zu verlieren.« Er beugte sich vor und nahm ein Reagenzglas aus einer Halterung. »Versprochen ist versprochen.«
Das Herz klopfte Cinder bis zum Hals. »Aber brauchen Sie das nicht? Um es zu kopieren?«
Der Arzt stand auf, ging zum Bücherregal und nahm einen Messbecher herunter. »Wie alt ist sie?«
»Vierzehn.«
»In dem Fall sollte das hier ausreichen.« Er goss ein Viertel des Gegenmittels in das Reagenzglas. Dann stöpselte er beide Röhrchen zu und wandte sich an Cinder. »Ihnen ist schon klar, dass dies von Königin Levana kommt? Ich weiß nicht, was sie vorhat, nur, dass ihr das Wohl der Erde nicht gerade am Herzen liegt. Es könnte ein Trick sein.«
»Meine Schwester liegt sowieso schon im Sterben.«
Er nickte und hielt ihr das Reagenzglas hin. »Das habe ich mir auch gedacht.«
Cinder stand auf und barg das Glas in ihrer Hand. »Ist das wirklich in Ordnung?«
»Unter einer Bedingung, Linh-mèi.«
Sie schluckte und drückte das Reagenzglas gegen die Brust.
»Sie müssen mir versprechen, sich dem Palast nicht mehr zu nähern, solange Königin Levana hier ist.«
26
Prinz Kai kam siebzehn Minuten zu spät zur Konferenz. Torin und vier weitere Regierungsbeamte begrüßten ihn verärgert von ihrem langen Tisch her, genau wie das Dutzend Gesichter, das aus den Netscreens an der vertäfelten Wand hervorschaute. Vertreter aus allen Ländern der Erde – dem Vereinigten Königreich, der Europäischen Föderation, der Afrikanischen Union, der Amerikanischen Republik und aus Australien. Eine Königin, zwei Premierminister, ein Präsident, ein Generalgouverneur, drei Staats- und zwei Provinzvertreter. Zum Glück standen unter den Gesichtern die Namen und Titel der Staatsoberhäupter sowie die Allianzen der jeweiligen Länder.
»Wie gnädig von dem jungen Prinzen, uns mit seiner Anwesenheit zu beehren«, sagte Torin, als die Beamten um den Tisch aufstanden, um Kai zu begrüßen.
Kai wischte Torins Kommentar mit einer Geste beiseite. »Ich dachte, Sie könnten einen Vorsitzenden benötigen.«
Aus der Wand mit den Schirmen war ein höchst unfeines Grunzen vom afrikanischen Premierminister Kamin zu hören. Alle anderen schwiegen.
Kai ging auf seinen angestammten Platz zu, doch Torin hielt ihn auf und deutete auf den Stuhl am Kopf des Tisches. Den Stuhl des Kaisers. Mit zusammengebissenen Zähnen wechselte Kai auf seinen neuen Platz. Er sah hoch zu den Gesichtern – und obwohl die Regenten der Welt Tausende von Kilometern entfernt waren und auf ihre eigene Wand aus Netscreens starrten, hatte er den Eindruck, sie würden ihn missbilligend ansehen.
Er gab sich Mühe, nicht nervös zu wirken.
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