Die Lust des Bösen
er etwas weniger an Gewicht mit sich herumgeschleppt hätte, dann hätte er jetzt vielleicht einen Luftsprung gemacht. So atmete er tief ein, gerade so, als hätte er seit Stunden keinen Sauerstoff mehr in seine Lunge bekommen.
Er war erleichtert. Vor fünf Jahren war er zu spät gekommen. Seiner Schwester, die mit ihrem Motorrad tödlich verunglückt war, hatte er nicht mehr helfen können. Aber heute, heute war er da gewesen – zur rechten Zeit am rechten Ort, und hatte geholfen, dass diese junge Frau überlebte. Wenn das kein Grund zum Feiern war!
Wer auch immer ihm diese Gelegenheit gegeben hatte: Lukas dankte ihm dafür. Vielleicht konnte er jetzt endlich all seine Schuldgefühle überwinden und seine Selbstzweifel begraben, die ihn in den vergangenen Jahren immer wieder gequält hatten.
Die Schwester schaute ihn konsterniert an.
E s klingelte an der Stationstür. Schwester Amelie öffnete. Ein großer, attraktiver Mann stand vor ihr und nestelte nervös an seinem eleganten dunklen Mantel.
Ja, das war er, ihr Traummann – vielleicht ein wenig zu aufgeregt. Genau so hatte sie ihn sich immer vorgestellt.
»Jack Braun«, stellte er sich vor.
Und während sie ihn hereinbat, erkundigte er sich besorgt und angespannt nach dem Befinden von Lea Lands.
Amelie versuchte ihn zu beruhigen.
Selten hatte Jack sich in seinem Leben ausgelaugter, leerer und hoffnungsloser gefühlt. Was, wenn sie den Unfall nicht überlebt hatte? Wenn sie für immer gelähmt war oder gar ins Koma fiel? Immer wieder hatten sich während seiner Fahrt ins Krankenhaus schreckliche Bilder in sein Bewusstsein gedrängt. Wie Lea sich mit ihrem Motorrad überschlug, wie sie dagelegen haben musste, bewusstlos und hilflos am Straßenrand. Sein Gesicht schien jede Farbe verloren zu haben. Aus weiter Ferne drangen die Worte der Schwester zu ihm: »Trotz ihres schrecklichen Unfalls hat sie keine lebensbedrohlichen Verletzungen davongetragen … Herr Braun?«, fragte sie, als er nicht reagierte. »Sind sie noch da? Geht es Ihnen gut? Kommen Sie, setzen Sie sich einen Augenblick.«
Nein, er musste sich nicht setzen.
Keine lebensbedrohlichen Verletzungen, wiederholte er in Gedanken. Das war gut.
Sekunden später entspannten sich seine Gesichtszüge. Ein Stein fiel ihm vom Herzen.
Eigentlich dürfe sie ja um diese Zeit niemanden mehr auf die Station lassen, ergänzte die Stationsschwester, und normalerweise halte sie sich strikt an die Besuchszeiten.
Sie spürte, dass da etwas Ungelöstes zwischen dem Besucher und der jungen Patientin war. Etwas, das ihn beschäftigte und nicht losließ. Etwas, das er klären musste. Wie sehr musste er diese junge Frau wohl lieben. Aber Sentimentalitäten wie diese erlaubte ihre Arbeit einfach nicht.
Erst jetzt bemerkte Braun den Trucker.
»Sie müssen Lukas sein«, begrüßte er ihn mit einem gequälten Lächeln, das dennoch Ausdruck aufrichtiger Freude war.
»Ich habe einiges von Ihnen gehört! Sie sind wirklich ein Held.« Er klopfte dem Muskelpaket anerkennend auf die breiten Schultern. »Toll, was Sie da für Lea getan haben. Nicht viele haben den Mut und die Courage, anzupacken und einzuschreiten, wenn es darauf ankommt. Aber Sie schon!«
»Keine Ursache«, entgegnete der so Gelobte.
Dann ergriff wieder Schwester Amelie das Wort.
»Wir haben sie in ein künstliches Koma versetzt.«
»Künstliches Koma!« Jacks schlimmste Befürchtung schien sich zu bestätigen. Vielleicht würde Lea nie wieder aufwachen aus diesem langen, dunklen Nichts. Womöglich würde sie für immer gelähmt oder geistig behindert sein?
»Nein, nein«, ergänzte Amelie, die seinen besorgten Blick sah, »wir denken, dass wir sie schon morgen wieder aufwecken können. Keine Bange also, Herr Braun«, versuchte sie ihn aufzumuntern. »Alles wird gut.«
Jack spähte durch das Fenster der Intensivstation und sah, wie Lea dort lag, so hilflos, den Apparaten vollkommen ausgeliefert. Das war sicher kein Ort, an dem man sich wirklich erholte, war sein erster Gedanke. Er fühlte sich so nutzlos angesichts dieses kalten, sterilen Umfeldes. Am liebsten hätte er sich umgedreht und wäre geflüchtet.
Überall waren Schläuche und Geräte für EKG, Kreislauf, Atmung und Nierenfunktion. Alles wurde überwacht, jeder Atemzug kontrolliert. Wie weh es ihm tat, sie so zu sehen und zu wissen, dass das Letzte, was sie vielleicht von ihm in Erinnerung behalten würde, diese eine Nacht mit Vanessa war. Nie mehr, das schwor er sich in diesem Moment,
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