Die Lust des Bösen
Hauptstraße ein. Eigentlich wollte sie direkt nach Hause, aber dann überlegte sie es sich doch anders. Ein kleiner Abstecher, etwas frische Luft würden ihr vielleicht guttun. Sie entschied sich, ihre Lieblingsroute, die Landstraße in Richtung Wannsee, zu nehmen, vielleicht würde sie das auf andere Gedanken bringen und ihren Kopf frei machen.
Nach ein paar Kilometern hatte sie das Gefühl, dass ihre Maschine nicht mehr richtig zog und stärker mit dem Motor bremste, wenn sie vom Gas ging. Vielleicht waren es die Zündkerzen? Da musste sie unbedingt zu Hause nachsehen.
Auf keinen Fall wollte sie jetzt bei diesem Wetter anhalten. Sie hatte ohnehin kein Werkzeug dabei, und in dieser Dunkelheit konnte man sowieso nichts sehen.
Gott sei Dank hatte der Regen inzwischen etwas nachgelassen. Bald erkannte sie die Waldlichtung, in deren Mitte die alte knorrige Eiche stand, an der sie schon so oft vorbeigefahren war. Der majestätische Baum hatte sich vermutlich durch den kräftigen Wind, der hier wehte, im Laufe der letzten Jahrhunderte nach rechts geneigt, und auch einiges an Wurzelwerk schien sich gelöst zu haben. Alles in allem machte er den Eindruck, dass es nicht mehr viel brauchte, ihn endgültig zu Fall zu bringen.
Jetzt hatte der Regen aufgehört, und Lea konnte durch die Wolken umrisshaft die dünne Sichel des zunehmenden Mondes sehen. Wenngleich es eine jener schwarzen Nächte war, nahm sie doch ein merkwürdiges weißes Licht wahr, das durch die Äste der Eiche hindurchdrang und nicht durch das feine, kaum wahrnehmbare Leuchten des Mondes erklärbar war. Spielte ihre Fantasie ihr gerade einen Streich, oder war es nur die Müdigkeit? Sie verlangsamte ihre Fahrt und hielt an. Sie nahm den Helm ab und blickte erneut zur Lichtung.
Ungläubig wischte sie sich über ihre Augen. Es schien eine Figur dort im Licht zu stehen, ja, es schien die Gestalt eines weißen Engels zu sein. War sie noch bei Sinnen?
Der Körper zeichnete sich unter dem fließenden Gewand deutlich ab und war klar zu erkennen – feminin, erotisch. Wie in Trance schaltete Lea den Motor ihrer Maschine aus.
Vielleicht würden ihr ja ein paar Schritte guttun. Sie stieg ab, stellte das Motorrad auf den Ständer, und als sie wieder hinauf in die Lichtung sah, war die Erscheinung verschwunden.
Na also, wer sagte es denn, es war wohl doch nur ihre Müdigkeit gewesen. Sie atmete tief durch.
Der Regen hatte inzwischen wieder eingesetzt, und die Sicht verhältnisse waren entsprechend schlecht. Eine ganze Weile schon fuhr sie jetzt in Schrittgeschwindigkeit hinter diesem riesigen schwarzen Truck her, der ihr stetig kleine Wasserschwälle gegen das Visier ihres Helmes platschen ließ, sodass sie zeit weise wie im Blindflug unterwegs war.
Und immer wieder schweiften ihre Gedanken zu Jack ab. Wie sehr hatte sie ihn vermisst. Vielleicht würde sie irgendwann in der Lage sein, ihm wirklich zu vergeben. Im Moment allerdings überwog einmal mehr ihre Enttäuschung. Ihre Wut, die sie schon überwunden geglaubt hatte, schien erneut hochzukochen. Auch die Traurigkeit und die Enttäuschung darüber, dass er alles so leichtfertig aufs Spiel gesetzt hatte, waren zurück. Sie sah die Szenen jener Nacht erneut vor sich.
Das Motorengeräusch des Trucks vor ihr hörte sich an wie ein alter Rasenmäher, der seine besten Tage hinter sich hatte, und jetzt kurz vor der großen Kurve wollte sie ihn endlich überholen. Sie gab Gas, scherte aus und startete ihr Überholmanöver.
Sie wusste, da vorne rechts kam eine Kurve. Lea wollte bremsen und spürte plötzlich keinen Druck mehr. Auch die hintere Bremse reagierte nicht. Das Hinterrad kam ins Rutschen. Lea hatte keine Ahnung, wie sie die dreihundertsiebzig Kilo schwere Harley zum Stehen bringen und wie sie diese Kurve nehmen sollte. Die nasse Fahrbahn tat ein Übriges und machte alles nur noch schlimmer.
Sie verlor den Halt, schlitterte, kam von der Straße ab, überschlug sich und landete im Gras neben der Landstraße.
Plötzlich versank alles um sie herum in völligem Dunkel. Es war die Art von Dunkelheit, die Angst machte – Angst vor dem Ungewissen und vor dem Tod. Es war die Art von Finsternis, die vorherrschte, wenn man tief unter der Erde in einem Keller saß.
Doch auf einmal schien es ihr so, als ob jemand die Kellertür öffnete, die Sonne einließ und sie mit einem Gefühl von unvorstellbarer Freude erfüllte. Es war, als ob viele Teile ihres Lebens miteinander zu verschmelzen begannen: Vergangenheit,
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