Die Lust des Bösen
werden einige von ihnen es jetzt als eine Art Flucht sehen, aber ich kann ihnen versichern, dass es nicht so ist. Ich habe mir meine Entscheidung nicht leichtgemacht, aber ich sehe keinen Weg mehr für meine Ziele und für die der Partei. Manchmal«, und seine Stimme verlor jetzt hörbar an Kraft und Energie, »muss man etwas beenden, um den Weg freizumachen für einen Neuanfang.«
Die ganze Zeit über, die er seine Erklärung vorgelesen hatte, hatte er einen fast aufgeräumten Eindruck gemacht. Aber jetzt war es um seine Fassung geschehen. Nein, er schämte sich nicht, seine Rührung zu zeigen.
»Ich war immer bereit zu kämpfen«, sagte er am Schluss, »aber ich habe die Grenzen meiner Kräfte erreicht.«
Er schaute auf, seine Augen glänzten feucht, er nickte.
Zunächst war alles ruhig im Saal, niemand sagte ein Wort. Nur Sekunden später setzte Gemurmel ein, und schließlich gab es kein Halten mehr für die Journalistenschar.
Jack, der sich wieder gefangen hatte, gab den Startschuss. »Bühne frei für Ihre Fragen«, meinte er, der die wachsende Ungeduld in den Augen der anwesenden Pressevertreter sah.
»Bitte«, der Politiker forderte einen jungen Journalisten in der ersten Reihe auf, zu beginnen.
»Herr Braun, wir alle haben in den letzten Tagen mit Erschre cken die Entwicklung in Ihrer Partei verfolgt. Alles scheint aus den Fugen geraten zu sein, und Sie scheinen die Kontrolle verloren zu haben – ist die Nationalpartei ein Schiff ohne Kapitän – und wohin steuert es?«
»Nun, ohne Führung ist der Dampfer ganz gewiss nicht«, versicherte der nunmehr ehemalige Parteichef, »aber die Partei steht vor einer richtungsweisenden Entscheidung. Die alles entscheidende Frage wird sein, ob sie es schafft, eine demokratische und vor allem gewaltfreie Partei zu werden. Eine Partei, die sich zu ihren historischen Wurzeln, aber auch gleichermaßen zu der Verantwortung, die ihr daraus erwachsen ist, bekennt. Nur wenn sie diesen Spagat bewältigt, wird sie sich in das demokratische Parteienspektrum einreihen können und sich auf Dauer etablieren.«
»Herr Braun, wie stehen Sie persönlich zu den Gewaltaktionen der Black Brothers und zu den Gangbang-Partys?«, fragte eine junge Journalistin aus der letzten Reihe.
»Ich kann nur an meine vorherigen Worte anknüpfen und mich selbst und gleichzeitig meine Partei auf das Entschiedends te davon distanzieren. Das Vorgehen und die Verhaltensweisen Einzelner entsprechen in keinster Weise unserem Wertesystem. Es handelt sich um Einzelaktionen, und ich möchte Sie bitten, sie auch als solche zu werten«, bekräftigte der scheidende Parteichef.
Als er jedoch bemerkte, dass sich im Saal eine wachsende Unruhe und ein ebenso großer Unmut breitmachten, ergänzte er: »Denken Sie einmal darüber nach, was passieren würde, wenn sich herausstellte, dass ein angesehener Arzt einer renommierten deutschen Klinik ein Mörder ist? Würden Sie die gesamte Klinik mit zur Verantwortung ziehen? Nein, meine Damen und Herren, das dürfen wir nicht, man sollte immer differenzieren, abgrenzen und abwägen zwischen den Handlungen einzelner und denen des Kollektivs«, setzte er entschieden nach.
Es war eine lange Pressekonferenz, und er hatte in den neunzig Minuten unermüdlich Fragen beantwortet, bevor er sich verabschiedete und den Journalisten für ihr Vertrauen und die gute Zusammenarbeit in den vergangen Jahren dankte. Dann ging er hinaus, die Tür fiel zu. Er war allein.
Wie gut diese Einsamkeit tat. Keine bohrenden Interview-Fragen, keine aufgesetzten, einstudierten Phrasen mehr. Keine Auftritte mehr nach einem Drehbuch, das andere bestimmten.
Nie war er so nahe bei sich selbst gewesen, nie hatte er sich wohler, authentischer gefühlt als in diesem Augenblick. Er war angekommen, zu Hause nach einer langen Reise.
Er atmete kurz tief durch und öffnete die Tür zum Parkhaus, wo sein Chauffeur mit dem Wagen wartete.
Es schien, als ob eine große Last von seinen Schultern genommen wurde, ja, er war befreit.
E s läutete. Mirja schreckte hoch. Das Geräusch hatte sie unsanft aus ihren Gedanken gerissen. Der Schreck schien ihr buchstäblich durch alle Glieder zu fahren.
Sie wusste, dass jetzt der Moment der Wahrheit kommen würde. Aber sie wusste auch, dass es das alles wert war: die letzten Tage, die sie so harmonisch mit ihrem Mann verbracht hatte wie schon lange nicht mehr ... Sie hatten sich unterhalten, seine Aufmerksamkeit, seine Zärtlichkeit und seine Berührungen hatten ihr
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