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Die Lust des Bösen

Die Lust des Bösen

Titel: Die Lust des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cassandra Negra
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Augenblick zusammenreißen, dann würde er all seine Fantasien umsetzen können.
    Die junge Frau ahnte nichts von alldem und war überrascht, als er mit dem Prosecco zurückkam. Gerade wollte sie ablehnen, als er ein wenig unbeholfen versuchte, sie doch noch zu überzeugen.
    »Na, so einen kleinen Schluck haben wir uns doch verdient. Nach der ganzen Aufregung, oder?«
    Während er diese Worte scheinbar gelassen aussprach, arbeitete sein Unterbewusstsein auf Hochtouren. Was würde er tun, wenn sie ablehnte? Minutiös hatte er alles geplant, aber an dieses Detail hatte er nicht gedacht.
    Contenance, Wenger, rief er sich in Gedanken zu, während er sich bei ihr bedankte, dass sie gekommen war. Er versuchte ein Lächeln, das bei ihm allerdings immer aussah wie ein schleimiges, unnatürliches Grinsen, war sein Gesicht doch ansonsten fast maskenhaft erstarrt. Jetzt wirkte er wie ein Leistungssportler, der nach einer langen Pause wieder trainieren wollte: ungelenk und eingerostet.
    »Prost«, sagte er schließlich.
    Dann war alles ganz leicht.
    Hannah trank. Ein Glas Prosecco konnte ja schließlich nicht schaden – und schon wurde ihr schlagartig schwindlig und schwarz vor Augen. Sie hatte kein Gleichgewichtsgefühl mehr, und ihre Beine versagten ihr den Dienst. Sekunden später schlug sie hart auf dem gekachelten Küchenboden auf.
    Darauf hatte Wenger nur gewartet.
    Jetzt musste alles ganz schnell gehen. Routiniert, als hätte er es schon tausendmal eingeübt, nahm er sie auf seine Schultern, schaute durch den Spion ins Treppenhaus. Die Luft war rein! Er fuhr mit dem Aufzug hinunter in die Tiefgarage. Schon vorteilhaft, diese Neubauwohnungen, überlegte er. Er packte Hannah in den Laderaum seines VW-Sprinters und fuhr los.
    Wenig später hatte er mit seinem narkotisierten Opfer die pathologische Abteilung der Charité in Berlin-Moabit erreicht – ein alter Backsteinbau aus den dreißiger Jahren, der das Institut für Rechtsmedizin jetzt schon ein paar Jahrzehnte beheimatete.
    Es war gegen zweiundzwanzig Uhr, als er mit seinem Liefer wagen geradewegs in die Tiefgarage des Hauses fuhr und Hannahs leblos scheinenden Körper zum Aufzug trug. Er drückte auf den Knopf, und langsam öffnete sich surrend die Auf zugstür. Einige Sekundenbruchteile später hielt der Lift ratternd und vibrierend in der gewünschten Etage.
    Der Fahrstuhl ist wohl auch nicht mehr der Jüngste, stellte Wenger grinsend fest. Er betrat den Bereich der Pathologie, der seit Jahren nicht mehr genutzt wurde. Hier gab es Räume, die leer standen, weil man einfach keine Verwendung mehr für sie hatte. Er kannte sich in diesem Teil des Hauses aus und wusste nur allzu gut, dass sich hierher kaum jemand verirrte.
    Er trug sein betäubtes Opfer in einen dieser Räume; einen Sektionsraum, wie man ihn auch aus den Fernsehkrimis kennt. Die kalte Atmosphäre umfing den Besucher, sobald man den Raum betrat oder auch nur eine Sekunde hineinblickte. Man fröstelte nicht nur angesichts der niedrigen Temperaturen, die hier herrschten, sondern auch angesichts der sterilen Umgebung.
    Hier gab es nichts, was an Leben erinnerte, nichts, was zum Verweilen angelegt war. Nur eine Ausstattung, die ihren Zweck in einer genau begrenzten Zeit erfüllte: der Zeit nämlich, die es brauchte, um eine Leiche zu obduzieren. Alles an diesem Ort war keimfrei und seelenlos – von den weißen Fliesen bis hin zum »Mobiliar« aus kaltem Edelstahl.
    In der Luft lag der intensive Geruch von Formalin, der meist zu einer leichten Übelkeit führt, die man nur schwer unterdrücken kann. Eigentlich war diese Atmosphäre nicht würdig, einem Menschen oder dem, was von ihm noch übrig geblieben war, den nötigen Respekt zu erweisen oder gar seine Würde zu bewahren.
    Dass Leben und Tod seit jeher untrennbar miteinander verbunden waren, wurde einem nirgendwo sonst so bewusst wie hier, wo einem die Abhängigkeit des irdischen Lebens von einer funktionierenden Körperhülle so deutlich vor Augen geführt wurde. Bis hierher konnte man den Körper eines Menschen vielleicht für eine Selbstverständlichkeit halten und nicht weiter darüber nachdenken. Aber spätestens in der nüchternen Atmosphäre des Sektionsraums war man gezwungen, sich mit der Vergänglichkeit, insbesondere seiner eigenen, auseinanderzusetzen. Und wahrscheinlich erhielten erst hier die Worte »Menschenwürde« und »Körperverletzung« im wahrsten Sinne des Wortes Bedeutung.
    Ein wenig erinnerte dieser Ort an das Behandlungszimmer

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