Die Lust des Bösen
Verletzungsbereich aus, wie wir sie hier sehen können.«
»Sind Sie sicher?« Wieder musste Lea einen starken Würgereiz unterdrücken. Um sich abzulenken, zwickte sie sich kurz in ihr rechtes Handgelenk, das funktionierte in solchen Situationen fast immer.
»Ja, absolut«, bestätigte der erfahrene Rechtsmediziner, dem ihre aschfahle Gesichtsfarbe nicht entgangen war.
Obwohl das hier nicht ihre erste Obduktion war, ging ihr dieser Fall doch besonders unter die Haut.
Noch zu gut erinnerte sie sich an den Tag ihrer ersten Obduktion. Es war ein trüber Herbsttag am Anfang ihrer Ausbildung gewesen, als sie das Gelände des Gesundheitszentrums Moabit betreten hatte. Ein riesiger Irrgarten hatte sich vor ihr aufgetan, die Beschilderungen der Gebäude A bis O waren missverständlich oder gar nicht vorhanden. Gebäude N sollte es sein, der Sitz der Rechtsmedizin. Nach einigen Fehlversuchen hatte sie dann endlich den Obduktionssaal gefunden.
Eine junge Assistenzärztin mit einer unglaublich positiven Ausstrahlung – etwas, was man im Beruf der Rechtsmediziner nicht unbedingt erwarten würde – hatte die Gruppe begrüßt und zunächst mit ein paar einführenden Worten darauf hingewiesen, dass man im Obduktionssaal aus Respekt vor den Toten nicht laut sprechen dürfe – und natürlich auch nicht essen, wie es leider oft in Fernsehkrimis zu sehen war. Und selbstverständlich seien es Rechtsmediziner, die eine Obduktion durchführten, und nicht die Pathologen, deren Arbeitsbereich das Labor sei, denn sie werteten vor allem Gewebeproben gesunder Patienten aus. Anschließend hatten sie den Umkleideraum betreten, in dem es wie in einem Schwimmbad einige Spinde gab und in der Mitte des Raumes eine Bank. Alles hatte nüchtern und steril ausgesehen.
»Am besten, sie packen Ihre Taschen und Jacken in einen Spind, ziehen einen der weißen Kittel über und folgen mir dann in den Obduktionssaal«, hatte die Assistenzärztin gesagt.
Es dauerte eine Weile, bis alle in der Gruppe ihre Kittel übergestreift hatten; einige schafften es nicht auf Anhieb, die beiden Druckknöpfe an der Rückseite oben im Nackenbereich und unten in der Taille zu schließen. Und dann kam der Moment der Wahrheit.
Lea betrat mit ihren Kollegen den Anatomiesaal und sah die Leiche auf dem äußerst rechten der vier Sektionstische des weiß gekachelten Saales liegen. Zunächst machte sich ein Gefühl der Beklemmung in ihr breit. Sie war merkwürdig berührt, fast verlegen. Schließlich war es die erste Leiche, die sie zu sehen bekam. So unmittelbar mit der Vergänglichkeit des menschlichen Daseins konfrontiert zu werden, war schon etwas Außergewöhnliches.
Auf dem Tisch lag ein junger Mann, dessen Körper ein einziges Gesamtwerk an Nazikunst war. Auf seinen Oberarmen prangten Nazisymbole wie die Schwarze Sonne der SS mit drei übereinanderliegenden Hakenkreuzen, ein Totenkopf der Waffen-SS, einige kleinere Tattoos, die nicht eindeutig zuzuordnen waren – unter anderem zwei Kreuze an den Ohrläppchen – , und schließlich zwei riesige, rot unterlegte Hakenkreuze auf seinen Oberschenkeln. Den berühmten Formalingeruch nahm sie nicht wahr. Im Grunde war es das Einzige, wovor sie sich richtig gefürchtet hatte: dieser süßliche, modrige Geruch, der bei Medizinstudenten leicht Übelkeit verursachte und von dem sie schon so viel gehört hatte.
»So, meine Damen und Herren«, hatte die Assistenzärztin damals gesagt, »dann treten Sie mal näher.«
»Sie sehen einen achtundzwanzigjährigen Mann, der einige Jahre im Gefängnis verbracht hat. Zweimal ist er wegen der Verbreitung verfassungswidriger Kennzeichen verurteilt worden. Sage und schreibe zwanzig Vorstrafen hatte er schon, darunter Diebstähle, Raubüberfälle, Trunkenheit im Verkehr und so weiter. Am Tag seiner Entlassung ist er gemeinsam mit seiner Freundin nach Hause gefahren. Gegen Mittag hat sie die Wohnung verlassen, um einzukaufen, und als sie zurückkam, lag ihr Freund leblos am Boden. Die junge Frau hat sofort den Notarzt gerufen und ihren Freund unter die kalte Dusche gezerrt. Das erklärt auch die nassen Haare und die feuchte Kleidung am Fußende der Leiche.«
Die junge Rechtsmedizinerin hatte die Kleidungsstücke hochgehoben und sah sich Hose und T-Shirt des Verstorbenen an.
Der eintreffende Notarzt habe versucht, den jungen Mann wiederzubeleben, was die Gruppe unschwer an den vier Abdrücken von Elektroden im oberen und im unteren Brustbereich erkennen konnte; allerdings hatten seine
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