Die Lust des Bösen
starre Blick des Toten war es, der Lea verfolgte.
Sie hatte versucht, das Erlebte abzuschütteln, aber es gelang ihr nur schwer, sich wieder auf das Leben da draußen zu konzentrieren. Noch einige Tage später dachte sie an die Leiche, und etwas in ihr schien verändert.
Im Obduktionssaal schon hatte sie ein diffuses Gefühl heimgesucht, erinnerte sie sich. Immer wenn ich mit dem Tod, wenn auch nur indirekt, in Berührung komme, werde ich in Zukunft mit meinem eigenen Tod konfrontiert werden, hatte sie bei sich gedacht. Er wird auf einmal realer, er wird denkbarer.
Das, was da vor ihr auf dem Tisch gelegen hatte, war ein Symbol ihrer eigenen Angst vor ihrer Sterblichkeit gewesen. Unwillkürlich, wenn auch nur als undeutliche Ahnung, war ihr der Gedanke in den Sinn gekommen, dass dies auch mit ihr geschehen werde.
»All das, was mich bis jetzt ausmacht, wird nicht mehr da sein«, sinnierte sie. »Ich werde nicht mehr fühlen und werde meine Lieben nicht mehr sehen, ich werde nicht mehr denken und auch nicht mehr lieben. Alles um mich herum wird einfach nur ein großes schwarzes Loch sein, das alles in sich hineinsaugt. Eine Existenz, die ausgelöscht wird, ein Ereignis, das absolut schmerzlich ist und das man lieber verdrängt, als sich mit ihm auseinanderzusetzen.«
Aber jetzt war etwas neu: Sie hatte ihre Einstellung zum Tod geändert. Er war nichts Mysteriöses mehr, nichts mehr, vor dem sie Angst haben musste. Sie hatte jetzt erfahren, dass er ein Teil des Lebens war. Die Nahtoderlebnisse, über die sie kürzlich in einem Buch des Autors Raymond Moody gelesen hatte, machten ihr Mut zu glauben, dass das Leben zum Zeitpunkt des Todes, wenn alle körperlichen Funktionen aufgehört hatten und der Leib verging, nicht ganz zu Ende war.
Es schien etwas zu geben, das überdauerte. Manche nannten es die menschliche Seele, andere bezeichneten es als Psyche, Geist, Selbst, Wesen, Sein, Bewusstsein. Die Bezeichnung spielte keine Rolle. Wichtig war allein die Imagination beim Eintritt in eine andere Existenzform nach dem leiblichen Tod, und dieses Denkbild gehörte zu den ehrwürdigsten Glaubensinhalten der Menschheit.
Kürzlich hatte sie in einer Zeitschrift gelesen, dass man in der Türkei eine Grabstätte entdeckt hatte, die vor rund hunderttausend Jahren von Neandertalern angelegt worden war. Aus den Überresten schlossen die Archäologen, dass diese frühen Menschen ihre Toten auf Blumen und Blütenzweigen zur letzten Ruhe gebettet hatten, was darauf hindeutete, dass sie vermutlich den Tod als feierlichen Anlass begriffen hatten – als den Übergang des Gestorbenen von dieser Welt in die nächste.
Diese Erkenntnis war es, die Lea ihre Arbeit erträglicher machte; all das Leiden, das die Opfer, die sie gesehen hatte und sehen würde, durchlebt hatten, würden ihr erträglicher werden durch die Vorstellung, dass es jenseits dieser Welt etwas gab, für das es sich lohnte, all das auf sich zu nehmen und zu leben.
»Geht es?«, fragte Mayer mitfühlend und riss die junge Profilerin aus ihren Erinnerungen.
»Ja, danke, ich komme schon klar.«
»Gut, dann fahre ich fort: Vermutlich hat der Täter, weil es höllisch schmerzhaft ist, jemandem bei lebendigem Leib die Schädeldecke zu öffnen, sie vorher örtlich betäubt. Wir haben einige Nadeleinstiche gefunden, die von Sedativa-Injektionen stammen könnten. Sonst hätte er auch riskiert, dass das Mädchen aufgrund der starken Schmerzen sofort bewusstlos wird. Und ich glaube nicht, dass er das wollte. Er wollte wohl den Tod hinauszögern, damit sein Opfer alles so lange wie möglich mitbekommt. Gestorben ist sie in dem Moment, in dem der Täter ihr das Gehirn entnommen hat.«
Lea war fassungslos. So etwas war ihr auch in ihrer Ausbildung noch nie untergekommen: ein Täter, der derart gefühllos und ausgesprochen brutal vorging. Ed Gein kam ihr in den Sinn, Vorbild für die Filme »Schweigen der Lämmer« und »Hannibal«. Der hatte seinen Opfern doch auch das Gehirn entnommen und es dann sogar gegessen? Eine grauenhafte Vorstellung!
»Wie muss sich dieses junge Mädchen wohl gefühlt haben? Wie ein Lamm auf dem Opfertisch?«, fragte sie.
»Ja«, bestätigte Mayer, »darüber darf man hier wohl nicht nachdenken. Fakt ist, dass der Brustkorb postmortal geöffnet und dann das Herz entfernt wurde.«
Genau darüber musste Lea aber nachdenken, denn das hatte vielleicht auch der getan, der das Mädchen so zugerichtet hatte. »Vermutlich haben wir es mit einem Täter zu
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