Die Lust des Bösen
wie die meisten jungen Dinger, die hier viel zu früh auf seinem Tisch landeten. Irgendwer da oben trifft immer wieder solche Fehlentscheidungen, dachte er. Gerade hatte er seine Sektion abgeschlossen, als die Ermittler die Pathologie betraten.
»Na, Paul, was hast du für uns?«, fragte Max mürrisch. Er hatte mal wieder schlecht geschlafen und gestern Abend das eine oder andere Glas Wein und Bier zu viel getrunken. Wie so oft in letzter Zeit. Dazu kamen dann noch diese grauenhaften selbstgebrannten Schnäpse! Die würden noch mal sein Tod sein.
Aber er brauchte den Alkohol, um sich wegzubeamen, weg von hier, weit weg. Die Welt, so wie sie war, war nicht mehr seine. Sie war zu trist, zu grau und zu monoton, es passierte einfach nichts Aufregendes mehr. Und was erwartete er eigentlich noch vom Leben?
Die große Liebe? Daran glaubte er schon lange nicht mehr. Geld? Er war zu sehr Realist, als dass er seine Hoffnungen darauf setzte. Und sonst? Er war nicht mehr der Jüngste, Kinder hatte er keine, und von vorne anfangen, das ging nicht mehr. Würde er das überhaupt wollen?
Die Frustrationen, all das Schreckliche, das er über all die Jahre gesehen hatte, und der Blick ins Zentrum des Grauens, in die Abgründe der menschlichen Seele, all das hatte dazu geführt, dass er emotional abgestumpft war – ein psychischer Krüppel, der nichts mehr fühlen konnte.
Ja, er konnte sich selbst nicht mehr spüren. Und um überhaupt etwas empfinden zu können, brauchte er den Adrenalin-Kick der Gewalt! War das nicht pervers? Genau die Gewalt, die er sein ganzes Leben lang verabscheut hatte, brauchte er jetzt für sich selbst, um zu spüren, dass er noch lebte.
»Nichts Schönes haben wir hier«, bemerkte Rechtsmediziner Mayer, der in solchen Augenblicken seinen Job wirklich abgrundtief hasste, während Max nicht einmal mehr zu diesem Gefühl fähig war.
Was Paul aber noch mehr verabscheute, waren die, die zu diesen Taten fähig waren. Und besonders bei diesem Fall war es ihm ein Herzensanliegen, den Schuldigen zu fassen. So viel Grausamkeit und Zerstörungswut hatte er in seiner Laufbahn noch nicht erlebt.
Er wandte sich an Lea, denn es war ihm nicht entgangen, dass ihr Partner nicht ganz bei der Sache war. Außerdem war dessen Alkoholfahne inzwischen nicht mehr zu ignorieren.
»Hast du etwa getrunken?«, zischte die Psychologin und schaute Max streng und missbilligend an. »Ach, warum frage ich?«, gab sie sich selbst die Antwort. Natürlich hatte er.
»Wie man unschwer erkennen kann«, fuhr Mayer fort, »handelt es sich um die Leiche einer jungen Frau zwischen Anfang und Mitte zwanzig. Ansonsten habe ich kaum auffällige Merkmale gefunden wie etwa eine Tätowierung, Narben oder Ähnliches, was uns die Identifizierung der Toten erleichtern würde. Lediglich drei Piercings – zwei in den Brustwarzen und zwei in den Schamlippen – die aber sind meines Erachtens frisch, denn es sind Einblutungen vorhanden.
Das Gebiss ist tadellos – sie hat lediglich eine einzige Füllung, und die Zähne sehen aus wie frisch gebleacht, so strahlend weiß sind sie. Schauen Sie mal!«
Mayer öffnete den Mund der Toten gerade so weit, dass sie einen Blick hinein werfen konnten.
»Wirklich beneidenswert«, bemerkte die Profilerin. »Können Sie uns denn schon etwas zum Todeszeitpunkt sagen?«
Dazu könne er leider keine präzisen Angaben machen, antwortete Mayer. Es gäbe zwar einige Indizien, an denen sie sich orientieren könnten, aber alles in allem sei es sehr schwer, hier genaue Prognosen zu stellen.
»Schauen Sie«, forderte er sie auf, »wir können an dem Opfer einige Leichenflecken sehen, die sich sofort nach dem Stillstand des Kreislaufs durch Absinken des Blutes in die tiefer liegenden Körperpartien infolge der Schwerkraft herausgebildet haben. Hier, insbesondere die Extremitäten der Toten zeigen diese Entwicklung sehr deutlich.« Meist begannen sich die Flecken bereits in der ersten Stunde nach dem Eintritt des Todes herauszubilden und erreichten ihre maximale Ausprägung nach zirka drei bis sechzehn Stunden.
»Wie Sie wissen, haben wir bei dieser Leiche schon sehr deutliche Leichenflecken, was dafür spricht, dass sie schon mehr als zwölf Stunden tot ist.
Und jetzt kommen wir zu unserem Problem: Bei der Herausbildung der Leichenflecken bleiben die Aufliegeflächen ausgespart, ebenso Bereiche, in denen die Haut durch Kleidungsstücke oder andere Gegenstände von außen komprimiert wird. Die Tote lag also die ganze Zeit
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