Die Lutherverschwörung - historischer Roman
»Niemand soll davon erfahren. Und mein Gewissen? Ich habe keins mehr. Wem gegenüber soll ich verantwortlich sein? Gott? Ich weià nicht einmal, ob es ihn gibt. Wenn es ihn gibt, hat er mich verraten, hat zugelassen, dass Berthold stirbt und dass man mir Martha nimmt. Früher dachte ich, der Mensch sei berufen, selbst göttlich zu sein; aber wir sind Tiere: Fressen oder gefressen werden! Also werde ich töten, damit Martha lebt. Es ist ganz einfach, und ich befolge nur die älteste Regel der Welt.«
Ihr Kopf schmerzte, und da sie lange nichts gegessen hatte, spürte sie plötzlich einen gewaltigen Hunger â offenbar war das Planen eines Mordes anstrengende Arbeit.
K APITEL 16
Wulf wartete mit Spannung auf Luthers Predigt. Zum ersten Mal würde er sich ein eigenes Bild davon machen können, wes Geistes Kind dieser Mann war. Aus allen Richtungen strömten sonntäglich gekleidete Menschen bei kaltem, sonnigem Wetter auf das Kirchenportal zu.
Er betrat die Stadtkirche und setzte sich auf eine seitlich stehende Bank, von der aus er sowohl den Altar als auch die Eintretenden im Blick behielt. Die besten Plätze wurden von den Honoratioren der Stadt eingenommen. Auch Lucas Cranach war im Hermelinmantel erschienen, neben ihm seine Frau und die Kinder. Barbara trug die Haare hochgesteckt und eine Haube mit langem Schleier. In der Nähe von Cranach saÃen Mitglieder des Stadtrats mit ihren Familien und Professoren der Universität, weiter hinten Handwerker und ganz am Ende Bauern aus der Umgebung, Mägde, Knechte, Tagelöhner und Studenten. Sie waren an ihrer einfachen Kleidung unschwer zu erkennen. Die Reihen waren gut gefüllt.
Luther erschien, und der Gottesdienst begann. Die Gesänge und Gebete rauschten an Wulf vorbei, ohne dass er ihnen Beachtung schenkte. Dann war es endlich so weit: Luther betrat die Kanzel.
»Ich möchte zu euch vom Glauben sprechen«, begann er mit fester Stimme. »Der Glaube vermag alle Dinge im Himmel, auf der Erde, in der Hölle und im Fegefeuer.«
Bereits diese wenigen Worte genügten Wulf, um Bescheid zu wissen. Das klang so harmlos, was Luther da redete ⦠Die meisten merkten wahrscheinlich gar nicht, was für eine Ketzerei sich hinter den schönen Worten verbarg.
Der Glaube vermag alles!
Wozu bedurfte es da der Heiligen? Wozu der Schwarzen Jungfrau? In Wirklichkeit behauptete dieser Mann doch: Die Vermittler zwischen Gott und Mensch werden überflüssig!
»Der Glaube ist das rechte priesterliche Amt«, fuhr Luther fort. »Ich behaupte: Der Glaube macht uns alle, die wir uns hier versammelt haben, alt und jung, Mann und Frau, arm und reich, ohne Ansehen des Standes und der Bildung â zu Priestern.«
Wulf begriff, dass er es mit einem Ketzer allerersten Ranges zu tun hatte â in diesem Punkt hatte Brangenberg zweifellos recht â, vielleicht sogar mit dem Antichristen in Person! An dieser Stelle hätte nach Wulfs Empfinden ein Raunen durch die Reihen gehen müssen. Die Menschen hätten die Köpfe zusammenstecken und entsetzt miteinander reden müssen. Aber offensichtlich waren sie bereits von den Predigten dieses Ketzers verdorben oder völlig abgestumpft. Ob ihnen nicht klar war, welche Schlussfolgerungen sich aus dem Gehörten ergaben?
»Ihr habt richtig gehört«, bekräftigte Luther, »jeder von euch, jeder Einzelne, ist zum wahren Priestertum berufen. Dieses Priestertum bedarf keiner jahrelangen Ausbildung, sondern einzig des Glaubens an Christus. Unsere Not, unser Gebet, unser Lob und unseren Dank bringen wir ihm dar. Dadurch opfern wir uns Christus auÃerhalb des Sakraments.«
Wieder so ein Satz, den sie ohne Murren schluckten ⦠Und dabei riss er die Säulen ein, auf denen die Kirche ruhte! Wahrscheinlich verstanden sie überhaupt nicht, was er sagte: Luther verhieà den Menschen Heil
auÃerhalb
der Sakramente. Welch eine Irrlehre! Trotzdem hingen sie alle wie gebannt an seinen Lippen.
Wulfs Wunsch, den Ketzer in aller Ãffentlichkeit hinzurichten, wurde so stark, dass es ihn kaum noch auf seiner Bank hielt. Unwillkürlich hielt er Ausschau nach einem geeigneten Ort für ein Attentat. Er betrachtete sehnsüchtig jenen Teil der Empore, der den Kirchgängern nicht zugänglich war: Dort, hinter der Säule postiert, mit seiner Armbrust, wäre er dem Blick der Menschen entzogen, die gebannt auf den Prediger starrten. Wäre er nur
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