Die Lutherverschwörung - historischer Roman
nachts aufwachen, geplagt von Geistern? Wartete das Fegefeuer? Im Moment handelte sie rein mechanisch, wie in einem Alptraum. Aber wenn sie aufwachte â was dann?
Nachmittags half sie in der Küche und bereitete zusammen mit der Köchin und den Mägden das Festessen vor. Zu viert ging ihnen die Arbeit gut von der Hand. Zwischendurch sprach Anna noch einmal mit Judith, aber die wollte nicht nachgeben: Nein,
sie
sei für den Wein zuständig. Es war einfach lächerlich, wie ernst die Magd ihre Aufgabe nahm; sie machte förmlich eine Wissenschaft daraus. Anna musste aufpassen, sonst machte sie sich verdächtig. Oder war sie bereits zu aufdringlich gewesen? Der Abend rückte näher.
Anna hantierte in der Küche, als die ersten Gäste eintrafen: zwei Klosterbrüder. Einer der beiden hieà Johann Pezensteiner und würde Luther nach Worms begleiten. Das galt auch für Peter Swaven, einen Edelmann aus Pommern, der kurz nach den beiden erschien. Der Raum füllte sich, die Gäste nahmen an fünf Tischen Platz. Derweil trafen in der Küche die Köchin, Gudrun, Judith und Anna letzte Vorbereitungen. Die Tür stand offen, sodass Anna zwischendurch immer wieder in den Gästeraum schauen konnte. Dort saà Jost Gessner, der ebenfalls eingeladen war.
Würde der Pilger Wort halten? Was, wenn Martha bereits zu viel wusste? Wenn sie Dinge gesehen hatte, die sie nicht sehen durfte? Etwas mit Annas Wahrnehmung stimmte nicht: Es betraf im Moment vor allem ihr Gehör. Obwohl die Küchengeräte klirrten, Gudrun und Judith laut plapperten und drauÃen im Gastzimmer tausend Stimmen durcheinanderschwirrten â Anna empfand den Lärm so, als käme er von sehr weit her. Alles klang seltsam gedämpft, als hätte man die Geräusche in einen weichen Stoff gewickelt. Als Judith vor lauter Aufregung einen Topf auf die Steinfliesen fallen lieÃ, drang das scheppernde Geräusch erst mit Verspätung zu ihr durch â und dann fiel ihr auf, dass es sich mit allen Geräuschen so verhielt. Vielleicht bin ich schon verrückt, überlegte sie, und weià es nicht?
Die meisten Gäste waren eingetroffen. Judith eilte hin und her, um ihnen das Warten mit einem Becher Wein zu verkürzen; einige vermischten ihn mit Wasser. Auch Gudrun war nervös, denn Barbara Cranach, um das Wohl der Gäste besorgt, hielt die Dienerschaft scharf im Auge.
»Da kommt er!« Gudrun krallte ihre Finger förmlich in Annas Arm â aber sie spürte nichts! Wovon redete Gudrun? Anna schaute ins Gastzimmer, alle standen von den Tischen auf und drängten zur Tür. Anna konnte sich das Durcheinander nicht erklären, bis ein kräftiger, dunkel gekleideter Mann sich einen Weg durch die Menge bahnte. Ein Augustiner! Wie hieà der Kerl noch gleich? Man feierte ihn wie einen Volkshelden.
Mit einem Mal kam Anna zu sich. Schlagartig empfand sie den Lärm, der ohrenbetäubend war. Die Gäste lieÃen Luther hochleben und er bemühte sich vergeblich um Ruhe. Anna fasste an ihren Rock, tastete nach dem Lederbeutel in der Innentasche.
Als der Tumult sich endlich legte, hielt Cranach eine kleine Rede; anschlieÃend dankte Luther kurz und unspektakulär. Die Gäste setzten sich an die Tische, Barbara kam in die Küche und gab ein Zeichen: Das Festessen konnte beginnen.
Judith hatte Wein aus einem groÃen Krug in kleinere gefüllt, die sie den Gästen auf die Tische stellte. Jeder bediente sich selbst, nur den Ehrengästen schenkte Judith ein. Anna und Gudrun verteilten das Essen in Holzschalen: Es gab ein Mus aus dicken Bohnen mit Zwiebeln und Ãpfeln vermischt, dazu geräucherte Würste; auÃerdem wurde eine Eierspeise gereicht und gefülltes Huhn. Als Nachspeise warteten in der Küche feine Lebkuchen, aus Honig, Mehl, Nelken, Zimt und Kardamom zubereitet.
Während die Gäste sich über das Hauptgericht hermachten, wurde es ruhiger in der Küche. Bisher hatte Anna nicht die geringste Gelegenheit gehabt, an Luther heranzukommen. Nachdem er mit Appetit eine Wurst verzehrt hatte, machte er sich jetzt über das Huhn her. Sein Kinn glänzte von Fett, er trank vom Wein, war bester Laune und plauderte mit seinen Tischnachbarn. Kein AuÃenstehender wäre auf die Idee gekommen, dass ihm eine lebensbedrohliche Reise bevorstand.
Annas Unruhe wuchs. Die Köchin reichte ihr gefüllte Schüsseln, die sie in den Gastraum hinübertrug
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