Die Macht der Angst (German Edition)
noch etwas einfällt.«
»Bitte, Detective, formulieren Sie es nicht so«, bekniete Des sie. »Edie ist labil und hat gerade erst eine erschütternde Erfahrung durchgemacht.«
Das ärgerte sie maßlos. Kev war keine erschütternde Erfahrung. Die Tage mit ihm waren ohne jede Einschränkung die besten ihres Lebens gewesen, bis vor drei Stunden, als sie auf dem Felsplateau dieser Handyanruf erreicht hatte.
»Ich bin nicht labil«, fauchte sie, während sie das Standbild von Kevs Gesicht, sein nachdenkliches Stirnrunzeln, mit dem er nach oben guckte, betrachtete. Ihr Herz krampfte sich vor Liebe zu ihm zusammen. »Des«, sagte sie. »Was meintest du damit, dass er nicht zu eurem Treffen aufgetaucht ist?«
Er schaute sie verwirrt an. »Ich meinte, was ich sagte. Er ist nicht aufgetaucht.«
»Aber da ist er doch.« Sie deutete auf das Bild. »Hier, auf dem Video.«
Des zögerte, dann blinzelte er hastig. »Ach so! Das Gebäude der Stiftung war nicht unser vereinbarter Treffpunkt. Wir waren vor einer Lagerhalle im Graystone Business Park verabredet, wo die Kisten verwahrt werden. Es hätte wenig Sinn gemacht, sie extra zu transportieren, darum habe ich dort auf ihn gewartet.«
»Das ist aber nicht das, was er mir gesagt hat«, teilte Edie ihm mit. »Kev zufolge wolltet ihr euch bei der Parrish Foundation treffen. Er erwähnte in seiner SMS einen ganzen Stapel Kisten.« Sie wandte sich an die Polizistin. »Haben Sie die Bibliothek dort überprüft?«
»Edie«, sagte Des mit leidgeprüfter Stimme. »Natürlich hat er dir das erzählt. Denk doch mal nach. Er wusste, dass du das Video früher oder später sehen würdest.«
»Haben Sie die Bibliothek überprüft?«, wiederholte sie mit hoher, nervöser Stimme ihre Frage an die Polizistin.
Houghtaling schürzte die Lippen. »Wir hatten keinen Grund, uns im fünften Stock umzusehen. Der Scharfschütze hielt sich in der achten Etage versteckt. Ich dachte, dass diese Stockwerke noch nicht einmal fertiggestellt seien.«
»Das sind sie auch nicht. Aber ich habe Ihnen gerade einen Grund gegeben, sich dort umzusehen«, entgegnete Edie. »Kev hat mir eine SMS geschickt. Er hat die Bibliothek gesehen, genau wie den Kistenstapel.«
Des ließ den Kopf in die Hände sinken. »Edie. Mach diese Sache nicht noch härter, als sie schon ist. Dort sind keine Kisten mit Akten. Sie waren dort auch nie.«
»Schicken Sie jemanden hin«, flehte Edie Houghtaling an, ohne ihn zu beachten. »Bitte. Jemand muss dort nachsehen. Jetzt sofort.«
»Ich werde sobald wie möglich jemanden dorthin beordern«, versprach die Beamtin.
Edie stand auf. »Ich danke Ihnen.«
»Einen Moment noch.« Die Frau fasste in ihre Tasche und gab ihr eine Karte. »Nur für den Fall, dass Ihnen irgendetwas einfällt.«
Edie steckte sie ein, dann taumelte sie wie eine Schlafwandlerin durch das Haus. Ronnie war nicht mehr im Wintergarten. Sie ging die geschwungene Treppe hoch und den Flur entlang bis zu Ronnies Zimmer.
Ihre Schwester lag auf dem antiken Himmelbett. Edie setzte sich neben sie und strich ihr über die zerzausten Haare.
Sie trat sich die Schuhe von den Füßen und kuschelte sich neben sie, sich des Gewichts der Ruger an ihrem Knöchel und der bräunlichen Flecken, die ihre schlammverkrustete Jeans auf Ronnies Lochstickerei-Spitzen-Tagesdecke hinterließ, unangenehm bewusst. Edie inhalierte den Duft von Ronnies Haar und fand Trost in ihrer Nähe, während sie sich die eigenen Wahrheiten ihres Herzens in Erinnerung rief.
Sie hatte Kev gezeichnet und dabei tief in seine Seele geblickt. Diese Frequenz, diese Vibration ließ sich nicht vortäuschen. Lügen waren ausgeschlossen.
Aber wie viele Bewusstseinsebenen mochte Kev haben? Edie hatte keine Ahnung, was sich hinter der Barriere in seinem Kopf verbarg. Vielleicht wusste er es selbst nicht. Es war durchaus denkbar, dass ein Teil von ihm gut war, zutiefst aufrichtig und integer, und gleichzeitig … noch etwas vollkommen anderes in ihm schlummerte.
Sie erschauderte.
Nein
. Sie musste Vertrauen in sich haben. Und in ihn. Wenn sie zuließe, dass ihr Glaube an Kev erschüttert wurde, wäre sie erledigt.
Sie vergrub die Nase in Ronnies Haaren, versuchte, ihren Verstand auszuschalten.
Natürlich gelang es ihr nicht, doch das Bemühen gab ihr zumindest etwas zu tun.
29
Kev war unter einer Tonne zermalmenden Gesteins verschüttet, aber irgendetwas machte sich an seinen Füßen zu schaffen. Ein ewiges Stupsen und Kratzen, das ihn in den Wahnsinn
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