Die Macht der Angst (German Edition)
Yuliyah, die noch immer leise weinte, aus der Kammer des Schreckens, mit dem Erfolg, dass sie sich prompt übergab. Er sprang hastig zur Seite, um nicht besudelt zu werden. Sie brauchte etwas zum Anziehen. Fieberhaft durchsuchte er das Labor, riss Schubladen und Schränke auf, bis er endlich einen Volltreffer landete: Labormäntel, sauber und frisch gebügelt. Für den Fall, dass Ava die Lust überkam, sich zu verkleiden und Wissenschaftlerin zu spielen.
Er hüllte Yuliyah in einen der Kittel und zog sie hinter sich her in den Korridor. Die Bauweise verriet, dass das Labor unter der Erde liegen musste. Es gab keine Fenster, keine Frischluftzufuhr. Die Flure waren aus gestrichenem Beton gefertigt, unter der Decke schlängelte sich ein Gewirr isolierter Rohrleitungen. Es musste sich um ein zweites Kellergeschoss handeln. Es gab keine Bezugspunkte in diesem gesichtslosen Labyrinth.
Kev ließ das Schloss des Labors einrasten und probierte anschließend sämtliche Schlüssel aus, bis er den für den Schließriegel fand. Er lauschte in die Stille, stellte sämtliche Sinne auf scharf und empfangsbereit. Es gab nichts, woran er sich orientieren konnte. Er nahm Yuliyahs Arm, legte den Finger auf die Lippen und führte sie den langen Korridor hinunter. Jedes Mal, wenn sie an eine Abzweigung kamen, blieb er stehen, spitzte die Ohren und ergründete die Qualität der Stille, bevor sie sich um die Ecke wagten.
Schließlich gelangten sie in ein Treppenhaus. Sie machten sich an den Aufstieg und kamen in einem Stockwerk heraus, wo es natürliches Licht zu geben schien. Kev schob die Druckstange der Tür nach unten und steckte den Kopf durch die Öffnung.
Es war eine große, leere Lagerhalle. Yuliyah packte seinen Arm und quasselte wie wild auf ihn ein. Er bedeutete ihr verzweifelt, still zu sein. »Wir müssen verschwinden«, flüsterte er. »Schsch! Lass uns abhauen! Los!«
Yuliyah deutete auf sich selbst und hielt erst einen Finger, dann fünf weitere hoch. »Oksana, Margaritka, Olga, Katyushka, Marya!«
Na toll. Als wäre es nicht schon Herausforderung genug, ein einziges verängstigtes, traumatisiertes, ausländisches Mädchen in Unterwäsche zu retten. Warum nicht gleich sechs? Wäre er nicht so verzweifelt gewesen, hätte er gelacht.
Er fuhr sich mit dem Finger über die Kehle, darauf hoffend, dass sie die internationale Geste verstand. »Polizei«, sagte er. »Wir alarmieren die Polizei. Sie werden Oksana, Margaritka, Olga, Kat… Kat…«
»Katyushka, Marya«, ergänzte Yuliyah ungeduldig. »Poolisei?«
Kev brachte sie wieder zum Schweigen, um sie dann durch die Tür in die Lagerhalle zu ziehen. Das Mädchen war eindeutig nicht begeistert darüber, dass er solch ein Hasenfuß war, aber scheiß drauf. Abgesehen von Avas Schere besaß er noch nicht mal eine Waffe, sie hatten ihm alles abgenommen. Außerdem war er nur ein einzelner Mann, er war müde und hatte Angst. Und Edie war irgendwo da draußen, gejagt von einer riesigen, metaphorischen Spinne aus der Hölle. Das Maß war voll.
Plötzlich knallte direkt vor ihnen eine große Metalltür auf. Kev war schon in der Luft, als ein hünenhafter Mann hindurchstürzte, Ziel nahm und …
Bäng
. Der Schuss ging daneben. Kev riss den Kerl mit einem frontalen Kick gegen sein Kinn von den Füßen und schmetterte ihn gegen die Wand. Die Waffe fiel zu Boden.
Ein zweiter Angreifer attackierte ihn mit einem Schlagstock. Kev duckte sich unter dem Hieb weg, packte den Mann am Arm und nutzte die Schwungkraft seiner Ausholbewegung, um ihn mit dem Kopf voran gegen die Tür zu schleudern. Er wirbelte gerade noch rechtzeitig herum, um dem ersten, der sich inzwischen erholt hatte, die Pistole aus der Hand zu treten.
Er drosch ihm den Ellbogen in die Schläfe, bekam ihn von hinten zu fassen und presste den Daumen auf seine Halsschlagader, bis er erschlaffte.
Beide Männer waren außer Gefecht gesetzt. Ein roter Abdruck an der Tür stimmte mit dem Fleck am Kopf des zweiten Angreifers überein. Das Blut floss in Strömen über sein lebloses Gesicht. Das war wieder mal zu einfach gewesen. Kev vermutete, dass die Männer die Anweisung gehabt hatten, sie nicht zu töten, sollten sie zu flüchten versuchen, und das hatte ihn und Yuliyah gerettet. Sie waren beide lebend mehr wert als tot.
Kev zog die Plastikfesseln heraus, die er sich in die Tasche gesteckt hatte, und schaute in den Raum, aus dem die Kerle gekommen waren. Er war voll mit Überwachungsmonitoren, die den Korridor, durch den
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