Die Macht der Angst (German Edition)
und gab ihr einen Kuss. Dann zog er sie durch das weitläufige Zimmer die Wendeltreppe hinauf. Zur Linken befand sich das Bad. Es war nicht gerade opulent, aber sehr hübsch. Dank ihrer Renovierung konnte Sean die Preise der Materialien mit einem Blick einschätzen.
Sie öffneten die Tür zum Schlafzimmer. Auch dieser Raum war groß und schlicht. Vor den Fenstern schwangen Holzjalousien im Wind.
Dann entdeckten sie das Mandala, das an die Zimmerdecke gemalt war.
Sean schaffte es nicht, den Mund wieder zuzuklappen. Seine Kehle wurde so eng, als würde sie mit Schrauben zugedreht. Seine Hände waren taub geworden. Zitternd stellte er das Bier auf die Kommode.
Das Mandala war bis ins Detail identisch mit dem, das Kev in dem Jahr, nachdem ihr Vater gestorben war, an die Decke ihres Schlafzimmers gemalt hatte, nur dass dieses hier zehnmal so groß war. Es schien sich weit über die Grenzen des Zimmers hinaus bis in die Unendlichkeit auszudehnen.
Der zwölfjährige Kev hatte wochenlang hoch konzentriert an diesem Mandala gearbeitet, all seine nicht artikulierte Trauer darin verarbeitet. Keiner von ihnen hatte darüber geredet, wie er mit dem Verlust ihres Vaters zurechtkam. Keiner hatte die Worte dafür gehabt. So etwas gab es nicht in Eamon McClouds Haus. Also schluckten sie es runter, bissen die Zähne zusammen, um gegen den unerträglichen Schmerz anzukämpfen, und taten so, als sei alles normal, obwohl ihre Welt aus ihrer Verankerung gerissen worden war.
Kevs Mandala brachte alles zurück. Die eigenartigen schweigsamen Mahlzeiten in den ersten Monaten. Davy, der angespannt und schmallippig den Platz ihres Vaters am Tischende eingenommen hatte. Essen, was Davy und Con gekocht hatten. Das verbrutzelte Fleisch, den Eichhörncheneintopf. Das flache, hefelose Brot, der harte, halbgare Reis. Die Erde im Gemüse. Viel mehr hatten sie nicht gehabt. Es war wie in einer Warteschleife der Ungewissheit gewesen. Sie hatten sich kaum getraut zu atmen oder zu zucken, keine Ahnung gehabt, wie sie ohne Eamon weiterleben, was sie tun sollten, abgebrannt und ganz auf sich allein gestellt.
Dann hatte Davy als Erstgeborener die Verantwortung auf sich genommen und einen Job auf einer Baustelle angenommen. Kaum dass Con seinem Beispiel gefolgt war und ebenfalls Geld verdiente, war Davy zur Armee gegangen und kurz darauf in den Irak geschickt worden. Ihre Welt hatte sich ständig verändert. All diese unverarbeiteten Gefühle hatte Kev in den kreiselnden Spiralen und Schattierungen seines Mandalas festgehalten.
Als Zwölfjähriger hatte Sean oft stundenlang auf dem Bett gelegen und zu Kevs Kunstwerk hochgestarrt. Er hatte sich in seinen Strudeln verloren, sich davontragen lassen, bis sein Kopf wohltuend frei von Gedanken war und er wieder atmen konnte. Manchmal sogar schlafen. Das war Kevs besonderes Geschenk an ihn gewesen.
Kev hatte sie alle nicht vergessen, realisierte Sean plötzlich. Er und seine Brüder lebten in Kevs Bewusstsein, und das übergroß. Er konnte sie nicht daraus vertreiben. Und angesichts dieser Zimmerdecke hatte es auch nicht den Anschein, als wollte er das.
»Es war eine Botschaft, denke ich«, meinte Liv.
»Hä?« Sean versuchte, ihre Worte aus seinem Kurzzeitgedächtnis zu fischen, aber die Aufgabe war zu schwer für seinen benebelten Kopf. »Wie bitte?«
»Der Drachen«, erklärte sie. »Er war eine Botschaft an dich. Kev ruft schon seit Jahren nach dir.« Liv atmete bebend aus. »Und endlich hast du ihn gehört.« Ihre Stimme brach, und sie presste die Hand auf den Mund.
Beide ließen den Blick schweifen, dann lachte sie erheitert.
»Was ist?«, fragte er.
»Das Bett! Schau es dir an!«
Sean musterte das zerwühlte Bett. Daunendecke und Laken waren zurückgezogen und … Entsetzen machte sich in ihm breit. »Schau mal, ist das Blut?«
»Nein, Dummkopf!« Liv setzte sich auf die Matratze, nahm eine Handvoll der welken dunklen Tupfen auf und schnupperte sachte daran, bevor sie sie herabflattern ließ. »Es sind Rosenblätter. Gott, wie romantisch.«
Sean ließ ein unwirsches Seufzen hören. »Lieber Himmel, hast du mich erschreckt.«
Sie roch an den Blütenblättern, die noch an ihrer Hand hafteten. »Ich bin echt froh. So schlecht kann es ihm nicht gehen, wenn er Rosenblätter auf seinem Laken verteilt.«
»Ja, du hast recht. Zumindest hat er Sex«, grummelte Sean.
»Spiel nicht den Macho«, wies sie ihn zurecht. »Rosenblätter haben nichts mit Sex zu tun. Sie sind ein Zugeständnis an das
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