Die Macht der Angst (German Edition)
gab zu vieles zu sagen. Es war ein Fass ohne Boden.
»Warum hast du dich all die Zeit ferngehalten?«, fuhr sie ihn mit bebender Stimme an. »So viele Jahre, sinnlos verschwendet! Es hat ihm wehgetan, ist dir das bewusst? Es hat ihnen allen wehgetan, aber ihm am meisten!«
Es hat auch mir wehgetan
. Kev suchte nach einem Einstieg, aber die Geschichte war zu gewaltig, zu lang, zu verrückt, und er selbst war zu aufgewühlt, um einen Sinn hineinzubringen. »Es war nicht meine Schuld«, sagte er hilflos.
Liv presste die Lippen aufeinander.
Das reicht nicht. Versuch es noch mal, Arschloch.
Aber er fand keine Worte, war mit seinem Latein, seinen Nerven am Ende. »Es tut mir leid.«
Und das war die Wahrheit. Er hätte seine inneren Mauern schon vor diesem Tag einreißen sollen. Vor Jahren. Die Reue bohrte sich wie ein glühendes Messer in seine Eingeweide. Er hatte keine Ahnung, wie er es hätte anstellen sollen, aber irgendwie hätte er es tun müssen.
Die Schüsse setzten wieder ein, doch sie waren nicht mehr auf das Fenster gerichtet. Geduckt riskierte Kev einen Blick und sah, wie die Scheiben eines der SUV s zerbarsten. Schreie gellten.
Aufregung stieg in ihm hoch, doch er unterdrückte sie bewusst. Es war schön und herzerwärmend, dass jemand auf ihrer Seite stand, trotzdem änderte es nichts. Sie waren noch immer geliefert. Er spähte wieder nach draußen …
Rums
. Glassplitter stoben ins Innere und regneten auf sie herab. Er ging hastig in Deckung. Liv duckte sich mit einem panischen Schrei und hielt die Arme schützend über Seans Gesicht und ihr eigenes. Weitere Kugeln pfiffen zwischen den Lamellen der Jalousien hindurch. Zerfetzt und durchlöchert schwangen sie in dem kalten Wind, der hereinwehte, während Stille eintrat.
»Kev? Hey! Bist du da drin?«
Heilige Scheiße, es war Bruno! Kev sprang auf, um nach draußen zu linsen, hielt sich jedoch sorgsam aus der Gefahrenzone. Sein kleiner Bruder stand auf dem Baugerüst, das das Nachbargebäude ummantelte. Seine Augen strahlten, und er grinste wie ein Irrer.
»Bruno?« Kevs Stimme war ein heiseres, kratzendes Flüstern. »Woher zur Hölle wusstest du – wo ist Edie?«
Bruno warf die Hände in die Luft, eine Geste, die er sich bei Tante Rosa abgeguckt hatte. »Das erklär ich dir später.« Er wuchtete eine massive Holzplanke hoch, um den Spalt zwischen den Gebäuden damit zu überbrücken. Sie landete so wuchtig auf der Feuertreppe, dass die Glasscherben, die sie bedeckten, hüpften. »Komm jetzt!«
»Liv zuerst«, sagte er.
Bruno schaute ihn verdattert an. »Wer ist Liv?«
»Geht es ihr gut?« Hinter Bruno tauchte ein anderer Mann auf.
Sie schauten sich an. Kev knickten beinahe die Knie ein. Dieses harte, markante Gesicht. Er ähnelte ihrem Vater so sehr, dass es ihn fast umhaute. »Davy?«, wisperte er. Das Einzige, was fehlte, waren die langen Haare, der buschige Bart und der wilde, durchdringende Blick in seinen Augen. Davy war das lebendige Abbild ihres Vaters.
»Hallo? Seid ihr langsam fertig?«, rief Bruno, der mit den Händen einen Trichter um seinen Mund geformt hatte, zu ihnen rüber. »Hört auf, sonst muss ich kotzen, okay? Spart euch die Violinen für später auf. Ist das machbar?«
Wie um seine Worte zu unterstreichen, schwirrten Kugeln durch das Baugerüst und prallten von den Außenmauern des Gebäudes ab. Fluchend ging Bruno in Deckung.
Kev zog Liv auf die Füße. »Du zuerst«, sagte er.
»Nein!«, protestierte sie. »Sean ist verletzt und –«
»Und du bist schwanger. Ich muss dir von dieser Seite Deckung geben, während du hinüberkletterst. Anschließend werde ich Sean rübertragen, aber das tue ich erst, wenn du drüben bist.«
Sie schnaubte verbittert. »Typisch.«
»Sobald ich das Feuer eröffne, steigst du so schnell du kannst rüber«, befahl er, riss die Jalousien von dem benachbarten Fenster und schob es auf.
Rums. Krach
. Jemand trat die Tür ein. Die Kommode, mit der er sie blockiert hatte, wackelte bereits.
Bäng
. Eine Kugel zertrümmerte das Schloss. Holz splitterte.
Wums
. Es war der fette Kerl, der sich durch die Tür zu kämpfen versuchte. Die Kommode bewegte sich. Eins der irren, funkelnden Augen des Mannes starrte durch den Spalt. Kev nahm es ins Visier.
Bumm
. Das Auge verschwand.
Zack
. Ein weiterer kraftvoller Kick. Die Tür ging ein Stück weiter auf.
»Beeil dich!«, wies er Liv an. Er lehnte sich weit aus dem Fenster und feuerte mit einem lang gezogenen, markerschütternden Schrei auf die
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