Die Macht der Angst (German Edition)
nicht befohlen habe, werde ich es mitkriegen. Und ich werde diesen Knopf drücken. Verstanden?«
»Ja.« Tränen sickerten unter ihren zusammengekniffenen Lidern heraus. Sie fasste nach oben, um sie wegzuwischen.
»Nimm deine Hand runter, bis ich dir sage, dass du sie heben darfst!«
Edies Hand verharrte mitten in der Luft, dann senkte sie sie. »Ja«, sagte sie.
»Steh auf und geh nach draußen«, wies Des sie an. »Verhalte dich normal. Geh auf direktem Weg vor die Hütte.«
Sie starrte auf den Kugelschreiber, der auf dem Boden lag. Zusammen mit dem zerknüllten Blatt Papier, das auf den Teppich gesegelt war, als Kev das Zimmer verlassen hatte. »Kann ich meine Schuhe anziehen?«, flüsterte sie.
Des zögerte. »Aber mach schnell. Und keine weiteren Fragen.«
Edie glitt auf die Knie. Sie holte den Stift mit einem Schuh heran und schnappte sich das Papier, als sie den zweiten aufhob. Dann setzte sie sich wieder aufs Bett, der Zettel zwischen ihren Füßen auf dem Boden ausgebreitet. Sie hielt den Stift, während sie die Schnürsenkel ihrer Turnschuhe zuband, und schrieb in riesigen Lettern:
BOMBE
»Hast du deine Schuhe endlich zugebunden?«, herrschte Des sie an.
»Ja.« Edie stand auf, trat aus der Hüttentür und ließ sie weit geöffnet. Der eisige Wind peitschte nach ihren feuchten Augen, ihrem immer noch nassen Haar. Sie ließ das Papier in ihren Händen auf den frostigen Untergrund flattern.
Des sagte nichts. Er hatte es nicht bemerkt. Tränen der Erleichterung rannen über ihre Wangen.
Bitte, Kev. Oder irgendjemand sonst. Findet die Nachricht. Findet sie!
»Und was jetzt?«, fragte sie.
37
Der scharfe, raue Wind, der durch den Canyon pfiff, schlug Kev ins Gesicht. Er begrüßte die Ohrfeige. Er hatte sie verdient.
Er kämpfte sich durch das Unterholz hinauf zu der zerklüfteten Felswand, die hinter dem zugigen, erst halb fertigen Haus aufragte. Es thronte geradezu auf dieser Klippe, erkannte er jetzt. Das Fundament war in eine Schicht Vulkangestein eingelassen. Aaro hatte in der Etage über dem Souterrain, in dem er momentan hauste, bereits mehrere Panoramafenster eingesetzt, vermutlich, um die langsam wachsende Ein-Mann-Baustelle vor der Witterung zu schützen. Sie boten einen sagenhaften Ausblick auf eine schroffe Felslandschaft und den reißenden Canyon darunter. Überaus dramatisch.
Kev konnte nicht fassen, wie weit er es hatte kommen lassen. Schlimm genug, dass er Edie zwei Jahrzehnte lang als Talisman und Navigationsgerät benutzt hatte, ohne auch nur zu wissen, wer oder was sie war. Und jetzt, wo er sie kannte, benutzte er sie noch mehr. Er verzehrte sich nach ihr. Sie raubte ihm den Verstand. Mit ihrem Körper, ihrem Geist, der Art, wie sie sprach. Den Gefühlen, die sie in ihm weckte. Er war berauscht davon, wirklich von ihr gesehen und gekannt zu werden.
Trotzdem hatte er ihr Leben wiederholt in Gefahr gebracht. Kev hatte instinktiv gewusst, dass er sie nicht würde haben können. Dass es für das Mädchen einem Todesurteil gleichkam, mit ihm zusammen zu sein. Aber er hatte so getan, als wäre er sich dessen nicht bewusst.
Und dann heute Nacht. Er war bestürzt über sich selbst. Er hatte sie eingeschüchtert, zur Schnecke gemacht, sich wie ein Wilder gebärdet und sie zu grobem Sex genötigt. Nach einem Tag wie diesem.
Und jetzt könnte sie auch noch im Gefängnis landen. So sie denn überlebte.
Er musste dieses Untier in sich bezähmen. Schadensbegrenzung betreiben. Falls er sich eines Verbrechens schuldig bekennen musste, das er nicht begangen hatte, Mord, Vergewaltigung, Gehirnwäsche, Missbrauch und was auch immer sonst noch, um ihren Namen reinzuwaschen, er würde es tun. Ohne zu zögern.
Er würde sich damit begnügen müssen, dass Edie irgendwo an einem sicheren Ort und mit heiler Haut existierte, auch wenn sie nicht glücklich war. Vielleicht könnte er ihre Comic-Romane lesen, um sich die Zeit zu vertreiben, während er im Gefängnis verrottete. Denn genau das hatte er verdient, reflektierte er düster. Die Strafe sollte dem Verbrechen angemessen sein.
»Hallo, Junge.«
Kev drehte sich um. Es war Tony. Er war in den letzten vierundzwanzig Stunden um zehn Jahre gealtert. Seine Falten waren tiefer, seine Tränensäcke schwerer geworden.
Er bildete mit seiner Hand einen Schirm gegen den Wind, um sich eine selbst gedrehte Zigarette anzustecken. Sie glühte, als er daran zog. Seine grauen Bartstoppeln schimmerten silbrig im bleichen Zwielicht der Morgendämmerung.
Kevs
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