Die Macht der Angst (German Edition)
Witze?«, fragte Ava vergnügt. »Sie ist kein McCloud, sondern nur ein dummes, kleines reiches Mädchen. Ich spiele nur eine Weile mit ihr, um ein Gefühl für sie zu bekommen. Mach schnell, Dessie, sonst verpasst du die Show.«
Er grinste. »Auf keinen Fall.« Er verschwand aus der Tür.
Ava lehnte sich näher zu Edies Gesicht. Ihr Lachen hallte seltsam metallisch in Edies Ohren wider. Wie bei einem zornigen Pferd waren Avas Pupillen von einem weißen Ring umgeben. Sie hatte dunkle Make-up-Flecken auf ihrer fahlen Haut.
Etwas Kaltes und Hartes berührte Edies Handfläche. Ihre Finger schlossen sich darum. Der Brieföffner. Ihr steifer Arm hob sich und stach wild nach unten.
Ja, braves Mädchen … komm jetzt hier rüber … so ist es gut
…
Die höhnische Stimme entfernte sich weiter. Edies Herz raste, ihre Ohren tosten. Sie schmeckte Blut. Ihr Körper zuckte krampfartig.
Sie machte einen Schritt nach vorn. Dann noch einen. Und einen dritten, geschmeidiger nun.
Edie löste sich von sich ab, sah alles wie in einem Film. Mit abgeklärter Ironie überlegte sie, was für eine Schande es war, dass sie den wahren Reichtum, den sie gehabt hatte, erst jetzt zu schätzen wusste, wo er ihr entrissen wurde.
Sie hatte Ronnie gehabt. Kev. Sie hatte wunderschöne Dinge gesehen und so viele Stunden an diesem zeitlosen, gesegneten Ort verbracht, an den sie sich begab, wenn sie zeichnete und malte. Ein Ort, an dem sie glücklich und mit sich im Reinen war. Das war wahrer Reichtum. Nur erkannte sie das erst jetzt, wo er zerstört wurde.
Auf dieselbe Weise, wie diese Frau zerstört worden war
.
Mit dieser Einsicht öffnete sich ihr inneres Auge. Überall gingen Lichter an. Edie wollte es nicht, hatte nicht darum gebeten. Sie wollte nicht sehen, was hinter den gepeinigten Augen dieser Frau war.
Aber sie sah es trotzdem. Mit einem grauenvollen Gefühl des Wiedererkennens, so als blickte sie in einen Spiegel. Da waren Wut, Scham und Selbsthass. Sie zerfraßen sie.
Und Trauer. Sie keuchte, verjagte die Eindrücke, holte Luft –
Avas Augen weiteten sich. Beide erkannten im selben Moment, dass nicht Ava sie zu diesem Atemzug veranlasst hatte.
Edies Arm sank herab. Der Brieföffner fiel auf den Teppich. Ängstliche Freude lag im Widerstreit mit Ungläubigkeit. Ava schrie sie an. Edie spürte, wie heiße Speicheltropfen in ihr Gesicht spritzten. Ein dünner Blutfaden lief aus Avas Nase.
Edie versuchte, sich zu rühren. Ihre Euphorie wurde rasch von Ernüchterung ersetzt. Sie war noch immer bewegungsunfähig, ihr Körper so angespannt, dass er zu zerreißen drohte. Doch ihr Wille, sich zu bewegen, lag außerhalb von Avas Kontrolle, solange dieses innere Auge geöffnet blieb. Der Teil ihres Gehirns, den Osterman stimuliert oder eliminiert oder was zur Hölle sonst er damit angestellt hatte … er hatte einen blinden Fleck erschaffen.
Der einzige Haken an diesem Zustand bestand darin, dass sie mental mit anderen verbunden war. Die Barrieren waren eingerissen. Darum erfuhr sie Dinge über Menschen, wenn sie sie zeichnete. Sie wollte nichts über Ava wissen, wollte nicht mit ihr verschmelzen, aber sie hatte keine Wahl. Sie war eins mit Avas Seelenpein. Sie sah sie, fühlte sie, besaß sie. Sie hätte geschrien, wäre sie dazu in der Lage gewesen. Verglichen mit dem hier, waren die krampfartigen Schmerzen, die die X-Cog-Droge auslöste, nichts. Das hier war die pure apokalyptische Hölle auf Erden.
Ava heulte und kreischte. Blut strömte aus ihrer Nase. Mascara-Bäche liefen über ihre Wangen. Ihr Mund war weit aufgerissen. Sie prügelte wie eine Irre auf Edies Gesicht ein, schmetterte sie mit dem Rücken gegen die Wand.
Avas Geist löste sich in seine Bestandteile auf und Edies mit ihm. In ihnen beiden tobte ein rasender Hurrikan und vernichtete alles.
Edie holte zittrig Luft … und umarmte den Sturm. Sie wurde größer, nachgiebiger, weiter. Sie dehnte sich aus, ließ sich auf Wellen davontreiben, bis der Tumult nur noch eine leise, zuckende Bewegung in einem winzigen Teil ihres Bewusstseins war. Sie beobachtete das Aufbegehren, während sich der Rest von ihr mit heiterer Ruhe in die unermessliche Weite ausdehnte. Sie konnte sich einfach treiben lassen bis in die Unendlichkeit.
Vielleicht würde sie Kev irgendwo dort draußen finden. Bei diesem Gedanken ging ihr vor hoffnungsvoller Freude das Herz über …
Und dann sah sie Ronnie, tief unter sich. Zu einem schmalen Komma auf dem Bett zusammengekrümmt. Ganz allein und
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