Die Macht der Angst (German Edition)
Risse? Das war mein Spiegel, in der Baracke, in der ich sieben Jahre gehaust habe. Du hast das genaue Muster der Sprünge wiedergegeben, Edie. Bis hin zu dem fehlenden Stück hier. Dieser Winkel, diese Proportionen. Sie sind mathematisch exakt.«
Sie schüttelte den Kopf, aber Kev blieb hartnäckig. »Du fragst dich womöglich, wieso ich mich an derlei Details erinnere, aber ich hatte ansonsten nicht viel zum Nachdenken. Ich habe mir die abblätternde Farbe eingeprägt, ich erinnere mich an die präzise Kontur der Wasserflecken an der Decke.«
»Hm.« Edie schluckte schwer. »Ich … ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.«
»Wenn du willst, führe ich dich hin und zeige es dir. Dann kannst du vergleichen.«
»Das wird nicht nötig sein«, wiegelte sie hastig ab. »Ich glaube dir. Es ist nur so, dass ich keine falsche Hoffnung wecken möchte.«
Er legte das Buch weg. »Ich würde es nicht gerade als Hoffnung bezeichnen. Es ist nur eine Tür, an die es sich zu klopfen lohnt. Jede Kleinigkeit könnte mir helfen, Edie. Jede.«
Als sie den Blick von ihm losriss, spürte sie es wie einen körperlichen Schmerz. Ihr war übel vor Nervosität. Sie hatte weiß Gott schon genügend Menschen in ihrem Leben enttäuscht. Alle, auf die es ankam. Sie könnte es nicht ertragen, ihn auch noch zu enttäuschen.
Kev wartete einen langen Moment. »Ich habe die Hälfte meines Lebens in einem Zimmer mit übermalten Fensterscheiben verbracht.« Seine Stimme war emotionsgeladen. »Wenn du mir auch nur einen Lichtstrahl zeigst, egal aus welcher Richtung, ob aus der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft, würde ich dir die Füße küssen, dein Loblied singen und an deinem Altar beten. Ich würde für immer in deiner Schuld stehen. Verstehst du mich?«
Sie räusperte sich. »Diese Theatralik ist überflüssig«, bemerkte sie steif. »Ich werde dir gern helfen. Aber erwarte nicht zu viel.«
»Keine Sorge. Ich bin mit allem zufrieden. Und solltest du überhaupt nichts sehen, werde ich dir trotzdem dankbar sein, dass du es versucht hast.«
Sie überspielte ihre Nervosität, indem sie den Rest ihres erst zur Hälfte getrunkenen Tees in den Ausguss schüttete. Anschließend schnappte sie sich ihren Füller und das größte ihrer Skizzenbücher. Ein Teil von ihr rieb sich bereits die Hände, begierig darauf, endlich anzufangen. Sie konnte es nicht erwarten. Endlich durfte sie sich austoben. Ohne Einschränkung, ohne Regeln, ohne Furcht. Niemand würde ihr befehlen aufzuhören. Niemand würde sie rügen, es ihr verbieten oder ihr drohen. Sie musste sich nicht beeilen, um ein Bild zu bekommen, bevor ihr Kopf auf Empfangsbereitschaft umschaltete.
Edie konnte sich so viel Zeit lassen, wie sie wollte. Sie konnte sich an diesen Ort begeben und dort verweilen, sich dabei geerdet und fokussiert und lebendig fühlen. Sich dort umsehen, solange sie Lust hatte. Die Botschaften auf sich einstürmen lassen. Er hatte es nicht anders gewollt.
Solange es nur nicht etwas Beängstigendes oder Grausames war. Ein Stachel des Zweifels bohrte sich in ihre anschwellende Euphorie, doch die Versuchung war stärker. Man hatte sie so lange in Ketten gehalten. Edie konnte sich kaum vorstellen, wie es sein würde, sie abzuschütteln. Das Gefühl von Freiheit machte sie schwindelig.
Kevs Miene war beinahe scheu. Es war das erste Mal, dass sie einen Riss in seinem robusten Selbstvertrauen feststellte. »Und … was soll ich jetzt tun?«
»Was du willst«, antwortete sie. »Dies war deine Idee.«
Edie wartete, doch er wirkte derart verloren, dass sie schließlich Mitleid bekam. »Zieh deinen Mantel aus.« Sie schnappte sich einen Stuhl und platzierte ihn in der Mitte des Zimmers, soweit man von einem Zimmer von solch übersichtlicher Größe überhaupt behaupten konnte, dass es eine Mitte hatte. »Setz dich hierhin.«
Er stand auf, schüttelte sich den Mantel von den Schultern und hielt ihn in der Hand, als wüsste er nicht, wohin damit. Edie nahm ihn, warf ihn beiseite, dann versetzte sie Kev einen Stups gegen die Brust, damit er sich endlich setzte. Die Wolle seines Pullovers konnte ihre Hand nicht vor dem elektrisierenden Kontakt abschirmen.
Beiden entrang sich ein leises Keuchen, und für eine Sekunde stockte ihnen der Atem.
Kev nahm auf dem Stuhl Platz. Gott, diese langen, kräftigen Beine. Diese straffen Muskeln, die sich unter der Jeans abzeichneten. Seine Kleidung war nicht dazu gedacht, seine physischen Vorzüge zu betonen, doch der anmutige
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