Die Macht der Disziplin
Krankheit.«
Aber was genau passiert in diesen Momenten mit Turner? Die einzelnen Anekdoten lassen genauso wenig einen definitiven Schluss zu wie die ausführlichen Untersuchungen, die zeigen, dass sich Diabetiker weniger gut im Griff haben als andere Menschen. Ein Zusammenhang ist noch lange keine Ursache. In den Sozialwissenschaften sind wirklich eindeutige Schlussfolgerungen nur dann zulässig, wenn alle anderen Erklärungen ausgeschlossen werden können. Einige Menschenkommen zufrieden ins Labor, andere aggressiv, wieder andere sind besorgt und mit ihren Gedanken woanders. Die Wissenschaftler können unmöglich sicherstellen, dass die durchschnittlichen Versuchsteilnehmer in verschiedenen Experimenten sich gleich verhalten – sie können sich lediglich auf die Gesetze der Statistik verlassen. Wenn sie ihre Versuchspersonen nach dem Zufallsprinzip auf Behandlungs- und Kontrollgruppen verteilen, gleichen sich die Unterschiede aus.
Wenn Sie beispielsweise untersuchen wollen, wie sich der Blutzuckerspiegel auf die Aggression auswirkt, müssen Sie einkalkulieren, dass einige Menschen von Natur aus mehr oder weniger friedlich sind als andere. Um zu zeigen, dass Glukose für die Aggression verantwortlich ist, müssen ungefähr gleich viele aggressive Testteilnehmer in der Glukose- wie in der Kontrollgruppe sein. Die Verteilung nach dem Zufallsprinzip ist in der Regel eine gute Lösung. Mit Hilfe dieser repräsentativen Gruppen können Sie erkennen, wie die unterschiedlichen Experimente anschlagen.
Nach diesem Prinzip führten beispielsweise Ernährungswissenschaftler ihre Versuche an Grundschulen durch. Die Kinder einer Schulklasse sollten das Frühstück zu Hause ausfallen lassen. Als sie in der Schule ankamen, erhielt die Hälfte, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurde, ein ordentliches Frühstück, die andere Hälfte nicht. In den ersten Unterrichtsstunden lernten die Kinder, die gefrühstückt hatten, besser und verhielten sich unauffälliger (die Beobachtung wurde von Wissenschaftlern vorgenommen, die nicht wussten, welche Kinder leere Mägen hatten). In der Pause bekamen die Kinder ein gesundes Pausenbrot, und die Unterschiede verschwanden.
Dass Glukose tatsächlich die magische Zutat ist, wurde in anderen Experimenten nachgewiesen, in denen der Blutzuckerspiegel von Testpersonen vor und nach einer einfachen Aufgabe gemessen wurde. Zum Beispiel sollten sie sich ein Video ansehen, in dem am unteren Bildrand immer wieder Wörter eingeblendet wurden. Ein Teil der Versuchspersonen wurde aufgefordert, die Wörter zu ignorieren, ein anderer erhielt keine Anweisungen und sollte sich nur entspannt dasVideo ansehen. Danach wurden die Werte erneut gemessen. Bei den entspannten Zuschauern waren sie gleich geblieben, aber bei denjenigen, die versucht hatten, die eingeblendeten Wörter zu ignorieren, war der Wert deutlich gesunken. Eine scheinbar kleine Übung zur Selbstdisziplin bewirkte einen spürbaren Rückgang der Hirnnahrung Glukose.
Um Ursache und Wirkung auseinanderhalten zu können, versuchten die Wissenschaftler, das Gehirn zwischendurch aufzutanken, und gaben den Testpersonen Limonade, die entweder mit Zucker oder mit Süßstoff gesüßt war. Der starke Zitronengeschmack machte es den Teilnehmern unmöglich zu erkennen, welches Süßungsmittel ihr Getränk enthielt. Der Zucker gab ihnen einen kurzen Energieschub, der Süßstoff lieferte keine Glukose und auch sonst keine Nährstoffe.
Die Auswirkungen des Zuckers zeigten sich in der Aggression, die Versuchspersonen bei einem Videospiel an den Tag legten. Zunächst verlief das Spiel normal, doch nach wenigen Runden erreichte es eine unlösbare Schwierigkeitsstufe. Alle Beteiligten reagierten frustriert, doch diejenigen, die das gezuckerte Getränk zu sich genommen hatten, murrten leise und spielten weiter. Die anderen begannen zu fluchen und schlugen auf den Computer ein. 42 Als sich die Versuchsleiter, wie im Testdrehbuch vorgesehen, über die Leistung der Probanden lustig machten, reagierten die unterzuckerten Teilnehmer ungehaltener.
Wo keine Glukose ist, das ist auch kein Wille. Dieses Muster zeigte sich immer wieder und in unterschiedlichsten Situationen. Sogar Hunde wurden untersucht. 43 Selbstbeherrschung ist zwar eine typisch menschliche Eigenschaft, die wir entwickelt haben, während wir zu zivilisierten Tieren wurden, doch sie ist keineswegs auf den Menschen beschränkt. Auch andere in Gruppen lebende Tiere benötigen ein gewisses Maß an
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