Die Macht der Disziplin
zum anderen unterscheiden, aber vor allem aus gewaltigen Mengen Zucker, Ei, Mehl, Butter und Schmalz bestehen. Doch die Völlerei ist erst der Anfang.
Von Venedig über New Orleans bis Rio de Janeiro gehen die Karnevalsnarren vom Gebäck zu interessanteren Lastern über und lassen hinter den traditionellen Masken die Zügel schießen. Es ist der einzige Tag des Jahres, an dem Sie nur mit einem Hut bekleidet durch die Straßen gehen und sich vor einem betrunkenen Publikum stolz in Ihrer ganzen Pracht und Herrlichkeit präsentieren können. Der Verlust der Selbstbeherrschung wird zur Tugend.
In Mexiko werden verheiratete Männer einen Tag lang von ihren ehelichen Pflichten entbunden. Am Faschingsdienstag sind selbst strenge Puritaner nachsichtig gestimmt; sie feiern Shrove Tuesday, den Tag der Vergebung der Sünden.
Aus theologischer Sicht ist der Karneval eine verwirrende Angelegenheit. Warum sollte der Klerus zum öffentlichen Laster auffordern und dies pauschal vergeben? Warum sollte er geplante Sünden nachsehen? Warum sollte ein gütiger, gnädiger Gott so viele ohnehin schon übergewichtige Menschen auch noch dazu anhalten, sich mit fettigem Gebäck vollzustopfen?
Aus psychologischer Sicht dagegen ist der Karneval schon eher verständlich: Wenn die Gläubigen vor Beginn der Fastenzeit sich nocheinmal entspannen, sammeln sie vielleicht die Willenskraft, die notwendig ist, um die Wochen der Fastenzeit durchzustehen. Dennoch waren Wissenschaftler nie besonders begeistert von der Mardi-Gras-Theorie, zumindest nicht so begeistert wie die Pfannkuchenesser mit ihren Pfauenfedern im Haar von ihren Pfannkuchen. Trotzdem schien es einen Versuch wert. Statt eines Faschingsfrühstücks rührte Baumeister in seinem Labor leckere Milchshakes mit Fruchteis an und verteilte sie in der Pause zwischen zwei Experimenten an Versuchsteilnehmer. Eine Vergleichsgruppe musste in der Pause dagegen langweilige, vergilbte Zeitschriften lesen oder bekam alternativ ein fades, fettarmes Mixgetränk vorgesetzt, das die Teilnehmer sogar noch widerlicher fanden als die Zeitschriften.
Wie von der Mardi-Gras-Theorie vorhergesagt, schien der Milchshake die Willenskraft der Teilnehmer aufzupäppeln und ließ sie die nächste Aufgabe besser als erwartet erledigen. Die verwöhnten Teilnehmer wiesen mehr Selbstdisziplin auf als diejenigen, die bloß in den alten Magazinen blättern durften. So weit, so gut. Aber interessanterweise zeigte das fade Mixgetränk dieselbe Wirkung wie der leckere Milchshake, was bedeutete, dass man sich nicht verwöhnen muss, um Willenskraft zu entwickeln. Die Mardi-Gras-Theorie schien also doch nicht zu stimmen. Nicht nur, dass die Wissenschaftler keine Entschuldigung mehr hatten, durch die Straßen von New Orleans zu ziehen, war das Ergebnis fast schon peinlich. Als Matthew Gailliot, der die Untersuchung leitete, seinem Doktorvater Baumeister das Ergebnis vorstellte, konnte er ihm gar nicht in die Augen sehen.
Baumeister gab sich optimistisch. Vielleicht war die Untersuchung ja doch nicht gescheitert. Irgendetwas war passiert, denn schließlich hatten beide Gruppen die Ego-Erschöpfung überwunden. Die Frage war nur, warum sogar die fade Medizin gewirkt hatte. Also suchten die Wissenschaftler nach einer anderen Erklärung für den Schub an Selbstdisziplin. Wenn es nicht die Lust war, waren es vielleicht die Kalorien? 39
Zuerst schien der Gedanke absurd. Warum sollte die Einnahmeeines faden Mixgetränks die Leistung bei einem Laborexperiment steigern? Jahrzehntelang hatten Psychologen die Leistung bei geistigen Aufgaben untersucht, ohne sich zu fragen, ob sie durch ein Getränk beeinflusst werden könnte. In ihren Augen war das menschliche Gehirn nicht mehr als ein Computer, und sie wollten beobachten, wie diese Maschine Information verarbeitete. Bei dem Versuch, die menschlichen Schaltkreise zu erforschen, übersahen sie ein ganz entscheidendes Bauteil des Apparats: den Stecker.
Ohne Energie sind die besten Schaltkreise nutzlos, im Computer genau wie im Gehirn. Psychologen brauchten jedoch eine Weile, um darauf zu kommen, und diese Erkenntnis stammte nicht aus Computermodellen, sondern aus der Biologie. Die Transformation der Psychologie unter dem Einfluss der Biologie war eine der wichtigsten Entwicklungen Ende des 20. Jahrhunderts. Einige Wissenschaftler fanden heraus, dass unsere Persönlichkeit und unsere Intelligenz zum Teil von unseren Genen bestimmt werden. Andere konnten zeigen, dass sich unser
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