Die Macht der Disziplin
glimpflichen Strafe davonkam, meinte die Öffentlichkeit, dies sei der Twinkie-Verteidigung zu verdanken, und war verständlicherweise erbost.
Andere Verteidiger gingen tatsächlich so weit, die Blutzuckerprobleme ihrer Mandanten als Grund für eine Strafminderung anzuführen. Wie man die moralischen Aspekte auch beurteilen mag, es gab in der Tat wissenschaftliche Untersuchungen, die einen Zusammenhang zwischen niedrigen Blutzuckerwerten und kriminellem Verhalten herstellten. Eine Studie stellte fest, dass 90 Prozent aller frisch inhaftierten jugendlichen Straftäter unterdurchschnittliche Blutzuckerwerte aufwiesen. Andere Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dassMenschen mit Hypoglykämie mit größerer Wahrscheinlichkeit eine Reihe von Delikten begingen, angefangen von Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung, Beleidigungen und Ladendiebstahl über Zerstörung von fremden Eigentum, Exhibitionismus und Masturbation in der Öffentlichkeit bis hin zu Betrug, Brandstiftung, Vergewaltigung in der Ehe und Kindesmissbrauch.
In einer bemerkenswerten Studie untersuchten finnische Wissenschaftler die Glukosetoleranz von Häftlingen, die kurz vor der Entlassung standen. Dann beobachteten sie, wer aus dieser Gruppe wieder straffällig wurde. Natürlich haben viele Faktoren einen Einfluss darauf, ob ein ehemaliger Knacki wieder Verbrechen begeht oder nicht: Gruppenzwang, Eheprobleme, Arbeitssituation, Drogenmissbrauch und so weiter. Aber allein nach Auswertung des Glukosetests konnten die Wissenschaftler mit 80-prozentiger Wahrscheinlichkeit vorhersagen, wer rückfällig werden würde und wer nicht. Aufgrund ihrer beeinträchtigten Glukosetoleranz, die es dem Körper erschwert, Nahrung in Energie zu verwandeln, verfügten diese Männer offenbar über ein geringeres Maß an Selbstdisziplin. 40 Die Nahrung wird in Glukose umgewandelt und gelangt ins Blut, doch dort wird sie nicht von den Organen aufgenommen. Das heißt, diese Menschen haben einen Überschuss von Zucker im Blut, was ungefähr so ist, als hätten sie jede Menge Feuerholz, aber keine Streichhölzer. Der Zucker zirkuliert ungenutzt durch den Körper und wird nicht in Hirn- und Muskelaktivität umgewandelt. Erreicht dieser überschüssige Zucker ein bestimmtes Niveau, spricht man von Diabetes.
Natürlich sind die meisten Diabetiker nicht kriminell, sondern haben sich und ihren Blutzuckerspiegel unter Kontrolle, indem sie auf sich achten und wenn nötig Insulin spritzen. Genau wie Jim Turner können sie so die schwierigsten Aufgaben meistern. Aber wenn sie sich nicht sorgfältig beobachten, können sich ungewöhnliche Probleme ergeben. In Persönlichkeitstests haben Wissenschaftler beispielsweise festgestellt, dass Diabetiker impulsiver reagieren und ein aufbrausenderes Temperament haben als andere Leute ihres Alters.Bei zeitintensiven Aufgaben lassen sie sich leichter ablenken. Häufiger haben sie Probleme mit Alkoholmissbrauch, Angst und Depression. In Krankenhäusern und anderen Einrichtungen machen Diabetiker mehr Ärger als andere Patienten. Im Alltag reagieren sie aggressiver in Stresssituationen. Der Umgang mit Belastungen erfordert Selbstbeherrschung, und genau daran hapert es, wenn der Körper das Gehirn nicht ausreichend mit Brennstoff versorgt.
Jim Turner hat seine ganz eigene Art, mit dem Problem umzugehen: seine Ein-Mann-Show mit dem Titel »Diabetes: Mein Kampf mit Jim Turner« 41 . In einer Anekdote erinnert er sich zum Beispiel an einen Streit mit seinem pubertierenden Sohn, in dessen Verlauf er, der vermeintlich erwachsene, derart wütend wurde, dass er nach draußen rannte und die Tür seines Wagens eintrat. »Es gibt Momente, in denen mein Sohn sieht, dass ich die Sache nicht im Griff habe, in denen er mir ein Glas Saft einflößt, und in denen er Angst hat, weil ich einfach nicht da bin.«
Als Entschuldigung für die Delle in der Autotür führt Turner keine Twinkie-Verteidigung ins Feld und zergeht auch nicht vor Selbstmitleid. In der Regel habe er den Diabetes unter Kontrolle, und er habe ihn nicht daran gehindert, glücklich zu sein und seine Träume zu verwirklichen (abgesehen von der Teleportation). Trotzdem erkennt Turner die emotionalen Konsequenzen der Glukose. »Da gibt es so viele kleine Momente, die ich verpasst habe, in denen ich zum Beispiel nicht für meinen Sohn da war, weil ich gerade mit der Unterzuckerung zu kämpfen hatte und nicht mitbekommen habe, was eigentlich los war. Das ist das Schlimmste an der
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