Die Macht der Disziplin
Selbstdisziplin liegt in einem klaren Ziel. Psychologen verwenden den technischen Begriff der Selbstregulation, und »Regulation« unterstreicht die Bedeutung des Ziels. Regulieren bedeutet verändern, und zwar in sinnvoller und bewusster Weise. Es bedeutet, auf ein bestimmtes Ziel oder einen Standard hinzusteuern, zum Beispiel die Höchstgeschwindigkeit für Autos auf Autobahnen oder die Traufhöhe von Gebäuden festzulegen. Selbstdisziplin ohne Ziel wäre nichts anderes als eine willkürliche Veränderung, etwa wie der Versuch, einen strengen Diätplan aufzustellen, ohne zu wissen, welche Nahrungsmittel Übergewicht verursachen.
Die meisten von uns stehen jedoch nicht vor dem Problem, dass sie keine Ziele hätten; im Gegenteil, meistens haben wir viel zu viele. Wir stellen Listen auf, die wir nie und nimmer abarbeiten können, selbst wenn uns niemand dabei unterbricht (was nie passiert). Am Ende der Woche ist die Liste der unerledigten Aufgaben länger denn je, aber wir schieben sie weiter auf und hoffen, dass ein Wunder geschieht. Produktivitätsexperten haben festgestellt, dass sich viele Führungskräfte schon für den Montag mehr vornehmen, als sie in der ganzen Woche erledigen können.
Wenn es um langfristige Ziele geht, verhalten wir uns oft noch unrealistischer. Als der große Selbsthilfepionier Benjamin Franklin 53 gegen Ende seines Lebens seine Autobiografie verfasste, erinnert er sich schmunzelnd daran, welche Ziele er sich als junger Mann vorgenommen hatte: »Ich hatte mir das mutige und ehrgeizige Ziel gesetzt, moralisch vollkommen zu werden. Ich wollte leben, ohne je einen Fehler zu begehen und alle Niederungen überwinden, in die mich Neigungen, Gewohnheiten oder Freunde locken konnten.« Baldsah er sich jedoch mit einer kleinen Schwierigkeit konfrontiert. »Weil ich mich vor einer Schwäche hütete, wurde ich oft von einer anderen überrascht. Die Gewohnheit nutzte diese Unachtsamkeit aus, und die Neigung war oft stärker als die Vernunft.«
Also versuchte es Franklin mit System. Er stellte eine Liste von Tugenden auf und formulierte für jede ein kurzes Ziel. Zum Thema Ordnung hielt er beispielsweise fest: »Gib jedem Ding seinen Platz und jeder Unternehmung ihre Zeit.« Die Liste bestand aus einem weiteren Dutzend Tugenden –Abstinenz, Schweigsamkeit, Entschlossenheit, Sparsamkeit, Fleiß, Ehrlichkeit, Gerechtigkeit, Mäßigung, Reinlichkeit, Ruhe, Keuschheit und Bescheidenheit –, doch er erkannte, dass die Aufstellung nur bedingt nützlich war. »Ich hielt es für ratsam, mich nicht an allen gleichzeitig zu versuchen, sondern sie eine nach der anderen anzugehen«, schrieb er. Das Ergebnis war ein »Kurs«, der heute vermutlich unter dem Titel »In 13 Wochen zur totalen Tugend!« vermarktet würde. Lange vor Stephen Coveys sieben Wegen und seinen ledergebundenen Kalendern und Planungssystemen, und lange vor dem Spruch des Tages von Stuart Smalley und Konsorten erfand Franklin ein System mit seiner »Tugendtabelle«. Als Bonus gab er seinen Lesern ein Gebet mit auf den Weg:
Vater des Lichts und des Lebens, erhabener Gott! Zeige mir, was gut ist, lehre mich! Behüte mich vor Dummheit, Eitelkeit, Laster und allen niederen Zielen und fülle meine Seele mit Wissen, Frieden und Tugend: Heiliges, tiefes und ewiges Glück!
In einem Notizbuch 54 legte er mit roter Tinte dreizehn Wochentabellen an, eine für jede Tugend. Jede Tabelle bestand aus sieben Spalten für die Wochentage und dreizehn Zeilen für die einzelnen Tugenden, beginnend mit der Tugend der jeweiligen Woche. Am Ende des Tages ging er die Reihen durch und markierte mit schwarzem Bleistift, welche der Tugenden er nicht eingehalten hatte. In einer dieser Tabellen – die Woche hatte Franklin der Mäßigung gewidmet – setzte erschwarze Markierungen bei anderen Tugenden, bei deren Umsetzung er im Laufe der Woche geschwächelt hatte: Geschwätz und Unordnung am Sonntag, Chaos und Faulheit am Dienstag, Unentschlossenheit und Völlerei am Freitag. Aber immerhin erreichte er sein Ziel und rührte die ganze Woche keinen Tropfen Alkohol an. Von diesem Fortschritt ermutigt und in der Hoffnung, dass ihm die Abstinenz nach einer Woche zur Gewohnheit geworden sei, machte er sich an eine zweite Tugend. Franklin verglich sich mit einem Gärtner, der dreizehn Beete auf einmal jätet, wieder von vorn anfängt und mit jeder Runde weniger Unkraut vorfindet. »Ich hoffte, dass ich in meinem Büchlein den Fortschritt meiner Vervollkommnung würde
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