Die Macht der Disziplin
Jahren an, bei den Süchtigen reichte die Zukunft dagegen gerade einmal neun Tage weit.
Dieser extrem verkürzte Zeithorizont ist für Suchtkranke typisch.Wenn sie im Labor Karten spielen, dann wählen sie riskantere Strategien mit schnellen, großen Gewinnen, auch wenn sie langfristig mehr mitnehmen konnten, wenn sie sich für eine Reihe kleinerer Gewinne entschieden. Wenn sie vor die Wahl gestellt werden, jetzt 375 Dollar zu bekommen oder in einem Jahr 1.000, dann entscheiden sich Drogensüchtige, Alkoholiker und Raucher eher für das schnelle Geld. Der Psychiater Warren Bickel, der die Süchtigen in Vermont untersuchte und seine Forschung an der University of Arkansas fortsetzte, konnte diese Vorliebe für kurzfristige Gewinne immer wieder beobachten. (Die einzige Ausnahme war wieder Marihuana; die Droge macht weniger süchtig und scheint das destruktive kurzfristige Denken nicht zu erfordern, das ansonsten mit Süchten einhergeht.) Eine kurzfristige Sichtweise kann die Suchtanfälligkeit noch erhöhen, und die Sucht verkürzt wiederum den Zeithorizont, weil die Suchtkranken auf den kurzfristigen Kick aus sind. Wenn es ihnen gelingt, ihre Sucht zu überwinden oder zu mindern, vergrößert sich ihr Zeithorizont wieder, wie Bickel und seine Kollegen an Rauchern und Drogensüchtigen erkannten.
Im Labor und im Alltag sind Drogensüchtige, Alkoholiker und Raucher gute Beispiele für die Gefahren der kurzfristigen Ziele. Wer die langfristige Perspektive aus den Augen verliert, spielt mit seiner Zukunft – gesundheitlich und finanziell. In einem weiteren Experiment mit den Geschichten von Joe und Bill stellten Wissenschaftler fest, dass Testpersonen umso weiter in die Zukunft blicken, je mehr sie verdienen. Das ist zum Teil der Notwendigkeit geschuldet: Wer knapsen muss, um die Miete zu bezahlen, der braucht sich keine Gedanken um eine private Zusatzrente zu machen. Aber vielleicht ist ja die notorische Ebbe im Portemonnaie umgekehrt eine Folge des kurzsichtigen Denkens. Wie in Äsops Fabel ist die weitsichtige Ameise besser auf den Winter vorbereitet als die Heuschrecke, die nur im Hier und Jetzt lebt.
Aber mit Äsop ist noch nicht das letzte Wort über Zukunftsplanung gesprochen. Seit Jahrzehnten diskutieren Psychologen den Nutzenvon kurzfristigen und langfristigen Zielen. 57 Ein klassisches Experiment stammt von Albert Bandura, einem legendären Vertreter seines Fachs (in einer Aufstellung der meistzitierten Psychologen rangierte er auf dem vierten Platz, gleich hinter Freud, Skinner und Piaget). Er und Dale Schunk untersuchten Kinder im Alter von sieben bis zehn Jahren, die Probleme im Mathematikunterricht hatten. Die Kinder nahmen an einem Kurs teil, in dem sie Lerntechniken erwarben und vor allem viele Aufgaben lösen mussten. Einige der Kinder sollten sich kurzfristige Ziele setzen und zum Beispiel in jeder Sitzung mindestens sechs Seiten bearbeiten. Andere sollten sich dagegen langfristige Ziele setzen und bis zum Ende der sieben Sitzungen 42 Seiten Aufgaben gelöst haben. Das Volumen war in beiden Fällen dasselbe. Eine dritte Gruppe sollte sich gar keine Ziele setzen, und eine vierte Gruppe musste nicht einmal Rechenaufgaben lösen.
In einem Abschlusstest am Ende des Kurses schnitten die Kinder mit den kurzfristigen Zielen am besten ab. Sie hatten offenbar vor allem deshalb Erfolg, weil sie ihr Endziel schrittweise erreichten und dabei an Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit gewannen. Mit einem bestimmten Ziel für jede Sitzung lernten sie besser und schneller als die anderen. Obwohl sie pro Sitzung weniger Zeit benötigten, leisteten sie mehr und arbeiteten das Material schneller durch. Als sie am Ende zu den schwierigen Aufgaben kamen, waren sie hartnäckiger und gaben weniger schnell auf. Die langfristigen Ziele wirkten dagegen genauso, als hätten die Kinder gar keine Ziele. Nur die kurzfristigen Ziele verbesserten den Lernerfolg, die Selbstwirksamkeit und die Leistung.
Aber kaum war diese Untersuchung im
Journal of Personality and Social Psychology
(die renommierteste Fachzeitschrift des Gebiets) erschienen, veröffentlichte dieselbe Zeitschrift einen Artikel, in dem niederländische Wissenschaftler den Nutzen von langfristigen Zielen 58 bei 16- und 17-jährigen Schülern demonstrierten. Jungen, die ein langfristiges Ziel vor Auge hatten – ein Studienwunsch, viel Geld zu verdienen, eine Familiengründung oder ein hoher Sozialstatus –, zeigten in der Schule bessere Leistungen. Jungen, die wenig
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