Die Macht der Disziplin
bewundern und zusehen können, wie eine Reihe nach der anderen von Markierungen frei bliebe, bis die Seiten nach 13 Wochen der täglichen Betrachtung sauber blieben.«
Leider ging der Plan nicht ganz auf. Die Markierungen füllten die Reihen und Spalten. Nach dreizehn Wochen begann er wieder von vorn und radierte die Bleistiftmarkierungen weg, um die Tabellen wiederzuverwenden. Nach einigen Runden hatte er Löcher in die Seiten radiert. Also besorgte er sich ein kräftigeres Notizbuch mit Seiten aus Elfenbeinkarton, die sich wie ein Fächer öffneten. Nach jeder Runde konnte er die Bleistiftmarkierungen einfach mit einem Schwamm abwaschen. Die neue Tabelle erwies sich als ausgesprochen robust: Als er ein knappes halbes Jahrhundert später als Diplomat mit den Damen der Pariser Gesellschaft flirtete, hatte er sie noch immer und zeigte sie gern herum. Anders als moderne Selbsthilfe-Gurus kam Franklin allerdings nicht auf die Idee, eine Produktreihe von Notizbüchern und Planern auf den internationalen Markt zu werfen, was vielleicht daran gelegen haben mag, dass er zu sehr damit beschäftigt war, in Paris Geld für die Armee von George Washington aufzutreiben. Vielleicht erschwerte es ihm seine Vorliebe für weibliche Gesellschaft auch, Tugenden wie Keuschheit zu verkaufen. Außerdem hatte Franklin schreckliche Probleme damit, auf seinem Schreibtisch Ordnung zu halten, was ihm mehr Markierungen einbrachte. Wie er in
Poor
Richard’s Almanack
schreibt: »Gute Vorsätze zu fassen ist einfach – das Schwierige ist die Umsetzung.«
Wie sehr er sich auch mühte, er hätte sein Notizbuch niemals sauber halten können, denn einige der Ziele standen mitunter im Widerspruch zueinander. Als junger Druckergeselle versuchte er, Ordnung zu halten, indem er einen rigiden Arbeitsplan aufstellte; leider wurde er dauernd von unerwarteten Anfragen seiner Kunden unterbrochen, und das Gebot des Fleißes verlangte, diesen auch nachzukommen. Wenn er sparsam lebte, lieber seine alten Kleider flickte, statt neue zu kaufen, und seine Mahlzeiten selbst zubereitete, dann blieb ihm weniger Zeit für Fleiß in der Arbeit oder für andere Projekte wie Drachensteigen oder das Basteln an Unabhängigkeitserklärungen. Wenn er sich für einen Abend mit Freunden verabredete und am nächsten hinter seinem Arbeitsplan zurückblieb, dann verstieß er gegen das Gebot der Entschlossenheit, das verlangte, alles umzusetzen, was er sich vorgenommen hatte.
Dabei sind Franklins Ziele im Vergleich zu den modernen noch weitgehend in sich stimmig. Er konzentrierte sich auf die traditionellen puritanischen Tugenden wie Arbeit und Fleiß und nahm sich nicht auch noch vor, möglichst viel Spaß im Leben zu haben (zumindest nicht schriftlich). Er machte es sich nicht zum Ziel, lange Spaziergänge am Strand zu unternehmen, Freiwilligenarbeit in einer gemeinnützigen Einrichtung zu leisten, die Nachbarn zum Recycling anzuhalten oder mehr Zeit mit seinen Kindern zu verbringen. Er hatte keine lange Liste von Traumzielen in aller Welt, die er unbedingt besuchen musste, und er träumte nicht davon, als Rentner in Florida zu leben. Während er den Frieden von Paris aushandelte, wollte er nicht gleichzeitig Golfspielen lernen. Wir werden heute mit unvergleichlich mehr Versuchungen konfrontiert, und nicht die kleinste davon ist die Versuchung, alles auf einmal zu wollen.
Werden wir nach unseren persönlichen Zielen befragt, so können viele von uns problemlos mindestens fünfzehn verschiedene davon auflisten. Einige von ihnen ergänzen sich vielleicht, zum Beispiel derVorsatz, mit dem Rauchen aufzuhören, und der Wunsch, weniger Geld auszugeben. Aber es ergeben sich unweigerlich Konflikte zwischen Arbeits- und Familienzielen. Selbst innerhalb der Familie können die Anforderungen der Kindererziehung in Widerspruch zu denen der Beziehungspflege stehen, weshalb bei vielen Paaren die Zufriedenheit in der Ehe nach der Geburt des ersten Kindes leidet und sich erst wieder erholt, wenn das letzte Kind endlich aus dem Haus ist. Einige Ziele sind in sich widersprüchlich, etwa Franklins Ziel der Mäßigung. Viele Menschen nehmen sich vor, sich nicht aufzuregen, wenn ihnen ihrer Ansicht nach Unrecht widerfährt. Wenn sie unfair behandelt werden, zwingen sie sich, nichts zu sagen oder zu unternehmen – nur um sich später schlecht zu fühlen, weil sie nicht für ihre Meinung oder Interessen eingetreten sind oder weil das ursprüngliche Problem nicht gelöst wurde. Mäßigung könnte
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