Die Macht der Disziplin
Briefe, unerledigte Aufgaben, unerfüllte Versprechen.
»In mancher Hinsicht bin ich ausgesprochen gut organisiert, aber in anderer überhaupt nicht«, erklärt Carey. »Das hängt ganz davon ab, was auf dem Spiel steht. Ich hatte das Chaos in meinem Büro einfach so dermaßen satt. Überall Berge von Papier, ich habe einfach nicht mehr durchgefunden. Rechts und links vom Computer haben sich Mist und alte Mails gestapelt. Es war schon so weit, dass ich nicht mehr klar denken konnte. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Kontrolle verloren hatte. Ich konnte mich nicht mal mehr hinsetzen und ein Buch lesen oder entspannen, weil ich dauernd dachte, ich muss noch diese E-Mails durchgehen.«
Carey kaufte sich ein Buch von David Allen mit dem Titel
Wie ich die Dinge geregelt kriege: Selbstmanagement für den Alltag
. »Ich habe das Buch gelesen und ein paar Ratschläge umgesetzt, aber nicht alle. Ich war total verzweifelt. Am Ende habe ich mir gedacht, verdammt nochmal, ich habe doch Geld! Also habe ich ihn direkt angerufen und ihn gefragt, wie viel er verlangen würde, um mich zu besuchen und direkt mit mir zu arbeiten. Er hat gesagt, für x Dollar arbeite ich ein ganzes Jahr lang mit dir. Es war eine Menge Geld. Aber ich habe nicht zweimal drüber nachgedacht.«
Welche Summe er auch hingeblättert haben mag, die begeistertenAnhänger von David Allen und seinem GTD-System (benannt nach dem englischen Buchtitel
Getting Things Done
) für Arbeit und Leben würden Carey sofort verstehen. Aber es handelt sich nicht um den üblichen Persönlichkeitskult der Selbsthilfe- und Motivationsgurus. Allen stellt keine sieben Regeln für das ewige Glück auf und reißt die Massen nicht zu Begeisterungsstürmen hin. Er beschäftigt sich mit unspektakulärem Kleinkram wie To-do-Listen, Mappen, Etiketten und Eingangsordnern.
Sein System dreht sich um ein geistiges Phänomen, das Psychologen schon vor Jahrzehnten erkannten – nämlich den geistigen Zeigefinger –, das jedoch erst Baumeister und seine Kollegen wirklich erforschten, als sie im Labor nach Möglichkeiten suchten, diese nörgelnde innere Stimme abzustellen. Die Psychologen und Allen gelangten auf unabhängigen Wegen zu sehr ähnlichen Techniken. Allen hatte keine psychologische Theorie, sondern ging nach der Trial-and-Error-Methode vor. Als Kind der Sechziger hatte er eine Menge Zen- und Sufi-Texte gelesen, in Berkeley ein Studium aufgenommen und wieder abgebrochen, mit Drogen experimentiert, einen schweren Zusammenbruch erlebt, Karate unterrichtet und für ein Unternehmen Seminare zum persönlichen Wachstum gehalten. Nebenbei hatte er als Motorradverkäufer, Zauberer, Gärtner, Reisekaufmann, Glasbläser, Taxifahrer, Packer, Kellner, Vitaminverkäufer, Tankwart, Bauarbeiter und Koch seine Brötchen verdient.
»Wenn Sie mir 1968 gesagt hätten, dass ich mal ein Produktivitäts-Coach würde, dann hätte ich Sie für verrückt erklärt«, meint er heute. Er driftete von einem Job zum nächsten – bis zu seinem 35. Geburtstag kam er auf 35 Jobs –, bis er aufgrund seiner Fähigkeiten als Seminarleiter die Möglichkeit erhielt, mit Managern von Lockheed und anderen Konzernen zusammenzuarbeiten. So gewunden sein Lebenslauf auch sein mag, Allen sieht eine Entwicklung von der Philosophie und den Drogen über Karate bis zum Coach und Unternehmensberater. Er beschreibt sie als eine Suche nach innerem Frieden und einem »Geist wie Wasser«. Dieses Bild stammt aus seinem Karateunterricht: »StellenSie sich vor, Sie werfen einen Stein ins Wasser. Wie reagiert das Wasser? Die Antwort lautet: In völligem Einklang mit der Kraft des Inputs. Danach kehrt es zum Ruhezustand zurück. Es reagiert weder zu stark noch zu schwach.«
Bei einem Besuch in seinem Büro bekommt man einen Eindruck von seiner Philosophie – und einen Neidanfall. Natürlich würde man von einem Effizienzexperten Ordnung erwarten, doch beim Anblick des Schreibtisches in seinem Büro im kalifornischen Städtchen Ojai erschrickt man trotzdem unwillkürlich: es sind keine Stapel zu sehen, und kein Stückchen Papier liegt herum. Auf der rechten Seite seines L-förmigen Schreibtisches stehen drei Ablagen – alle leer. Auf der linken Seite stehen zwei weitere Ablagen mit einem Dutzend Büchern und Zeitschriften, seiner Lektüre fürs Flugzeug. Ansonsten ist der Schreibtisch tadellos. Wie es das GTD-System vorschreibt, hat er seine Aufgaben entweder erledigt, delegiert, weggeworfen oder in einem der sechs Ordnerschränke
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