Die Macht der Disziplin
wir Radieschen essen und dafür die Schokolade stehen lassen müssen. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass eine Wiederholung von Übungen dieser Art unsere Willenskraft langfristig stärken könnte.
Aber wenn es tatsächlich eine solche Möglichkeit gab, dann wäre der Nutzen gewaltig. Kurz nach Veröffentlichung der Ergebnisse zur Ego-Erschöpfung setzte sich die Forschergruppe zusammen, um zu diskutieren, ob sich der Wille trainieren lassen könnte, und wenn ja, wie. Der Doktorand Mark Muraven, der die ersten Experimente zur Ego-Erschöpfung entwickelt und durchgeführt hatte, diskutierte verschiedene Trainingseinheiten mit seinen Betreuern Roy Baumeister und Dianne Tice. Da niemand wusste, was funktionieren würde und was nicht, beschlossen sie, verschiedene Übungen auszuprobieren und zu beobachten, wie sie sich auf die Willenskraft auswirkten. Ein Problem war natürlich, dass die Teilnehmer von vornherein ein unterschiedliches Maß an Willenskraft mitbrachten, genau wie einige Sportler mehr Kraft und Ausdauer haben als andere. Um diesen Faktor auszuschalten, mussten die Forscher vor den Übungen messen, wo ihre Probanden standen. Sie ließen die Teilnehmer zunächst einen Test zur Selbstbeherrschung durchführen, dann eine Übung zur Ego-Erschöpfung und maßen schließlich die Selbstbeherrschung ein zweites Mal. Dann gaben sie den Teilnehmern eine Übung mit, die sie in den folgenden zwei Wochen allein zu Hause durchführen sollten. Zum Abschluss maßen sie ein letztes Mal im Labor die Willenskraft der Teilnehmer. Die verschiedenen Übungen entsprachen unterschiedlichen Vorstellungen dessen, was zur »Charakterbildung« erforderlich war beziehungsweise welche mentalen Ressourcen gestärkt werden mussten. Was war es, das den Willen schwächte, und was musste deshalb trainiert werden? Die Unterdrückung einer Reaktion? Die Beobachtung des Verhaltens? Oder die Veränderung einer inneren Einstellung?
Eine Gruppe von Teilnehmern sollte zwei Wochen lang an ihrerKörperhaltung arbeiten. Wann immer sie daran dachten, sollten sie sich aufrecht hinstellen oder hinsetzen. Da die Teilnehmer an die für Studenten typische Gammelhaltung gewöhnt waren, wurden sie durch diese Übung gezwungen, Energie aufzuwenden, um ihre gewohnheitsmäßige Körperhaltung zu unterdrücken. An einer zweiten Gruppe sollte überprüft werden, ob der Wille durch die Selbstbeobachtung geschwächt wurde. Diese Teilnehmer sollten in den folgenden beiden Wochen festhalten, was sie über den Tag hinweg aßen. Sie sollten keine Änderungen an ihrer Ernährung vornehmen, doch es ist durchaus denkbar, dass der eine oder andere aus Scham dies trotzdem ein wenig tat. (»Hm, Montag Pizza und Bier. Dienstag Pizza und Wein. Mittwoch Hotdogs und Cola. Es sieht vielleicht besser aus, wenn ich hin und wieder einen Salat oder einen Apfel esse.«) An einer dritten Gruppe sollte überprüft werden, wie sich die Änderung der inneren Einstellung auswirkte. Sie sollten sich zwei Wochen lang um positive Stimmungen und Emotionen bemühen. Da die Wissenschaftler hier die besten Chancen sahen, ließen sie diese Übung von doppelt so vielen Teilnehmern durchführen, um statistisch möglichst verlässliche Resultate zu bekommen.
Doch die Forscher lagen mit ihrer Vermutung daneben. Die von ihnen favorisierte Strategie brachte gar nichts. Als die große Gruppe, die ihre Emotionen kontrollieren sollte, zwei Wochen später ins Labor zurückkam und die Tests zur Selbstbeherrschung wiederholte, zeigte sie keinerlei Verbesserung. Rückblickend ist das allerdings nicht verwunderlich, denn unsere Gefühle unterliegen nicht unserem Willen. Wir können nicht einfach beschließen, verliebt zu sein, uns zu freuen oder Schuldgefühle einzustellen. Die Emotionen lassen sich über kleine Tricks kontrollieren, etwa indem wir unsere Einstellung zu einem anstehenden Problem ändern oder uns ablenken. Aber wenn wir unsere Emotionen kontrollieren, trägt dies nicht zu einer Stärkung unserer Willenskraft bei.
Andere Übungen funktionieren dagegen sehr wohl, wie die beiden Gruppen bewiesen, die an ihrer Körperhaltung arbeiteten und ihreMahlzeiten protokollierten. Als diese beiden Gruppen zwei Wochen später ins Labor zurückkamen, hatten sie sich im Vergleich zu einer Kontrollgruppe 97 (die keine Übungen machte) deutlich verbessert. Das war ein überraschendes Ergebnis, und bei sorgfältiger Auswertung der Daten wurden die Schlussfolgerungen klarer. Erstaunlicherweise erzielte die
Weitere Kostenlose Bücher