Die Macht der ewigen Liebe
Asher umarmte seine Schwester, als würde er sie nie mehr gehen lassen wollen, und ich drehte mich weg, um nicht mitzubekommen, mit welcher Selbstverständlichkeit er jemand anderen anfasste.
»Wie geht es meiner Mom?«, fragte Lucy, als sie sich voneinander lösten.
Lottie sah so hübsch aus wie immer. Ihr kinnlanger Bob, der rote Lippenstift und die kantigen Gesichtszüge ließen sie älter als sechzehn wirken, so als habe die Zeit sie eingefroren. Sie hatte grüne Augen wie Asher und Gabriel, war aber kleiner als die beiden. Wie Lucy reichte sie mir kaum bis zur Schulter.
Lottie verzog das Gesicht. »Nicht gut. Es tut mir leid. Die Ärzte werden das besser erklären können.« Sie ging zum Krankenhauslift. Asher, Lucy und ich hatten noch einen späten Nachtflug nach Chicago erwischt, was gar nicht so einfach gewesen war,da wir uns bedeckt halten und ständig Angst haben mussten, dass Francs Männer uns ergreifen könnten. Am Flughafen hatten wir zwar niemanden bemerkt, aber die Vorstellung, dass sie hinter uns her waren, hatte eine schlaflose Nacht zur Folge gehabt. Das zeigte sich an unseren zerknitterten Klamotten und den dunklen Ringen unter unseren Augen. Ich hatte gehofft, der Zustand meiner Stiefmutter hätte sich über Nacht gebessert, aber Lotties grimmige Antwort machte alle Hoffnung zunichte.
»Oh Gott«, sagte Lucy.
Sie griff nach Ashers Hand, und ich sagte mir, dass das gut sei. Sie brauchte jemanden, der sie tröstete, und in den letzten Monaten hatte er sich für sie zu einer Art Bruderfigur entwickelt. Es war seltsam, wie eine Krise Menschen zusammenbrachte, während sie andere auseinanderriss. Die beiden hatten mich während des Fluges zwar nicht direkt ausgeschlossen, viel zu ihrer Unterhaltung hatte ich aber nicht beitragen können. Am liebsten hätte ich mich in ein Loch verkrochen und hinter mir alles zugemauert, doch gerade ging das nicht. Und so konzentrierte ich mich darauf, einen Fuß vor den anderen zu setzen und den nächsten Atemzug zu machen. Und zu hoffen, ich würde auch das überleben.
Lottie warf einen verwirrten Blick auf Lucys und Ashers verschränkte Hände und den gehörigen Abstand zwischen ihnen und mir im Aufzug. Ganz klar, Asher hatte ihr nichts erzählt. Ich mied ihren fragenden Blick, indem ich auf meine Füße starrte und mich gleichzeitig einen Feigling nannte.
»Hier entlang«, meinte sie, als die Türen aufglitten.
Wir verließen den Aufzug in dem Stockwerk, das als Intensivstation ausgewiesen war. Die Gerüche kranker Menschen und der Chemikalien, die benutzt wurden, um sauber zu machen, stiegen mir in die Nase und ich stand kurz voreiner Panikattacke. Der Wunsch fortzurennen wollte sich einfach nicht legen. Bislang hatte ein Krankenhausbesuch noch nie Gutes hervorgebracht. Während ich hinter den anderen herzockelte, stürmten Erinnerungen auf mich ein, die ich krampfhaft zu verdrängen suchte. Heute war kein Platz für Gedanken an meine Mutter! Ich wollte mich nicht daran erinnern, wie sie an einer ähnlichen Verletzung, wie Laura sie erlitten hatte, gestorben war.
Lottie zeigte uns ein leeres Wartezimmer und machte sich auf die Suche nach einer Krankenschwester. Wir zogen unsere Wintermäntel aus und standen betreten und schweigend herum, bis sie mit Lauras Arzt zurückkehrte, einem Japaner mittleren Alters mit einer beruhigenden Baritonstimme. Dr. Okada klärte uns über den Zustand meiner Stiefmutter auf, wobei er eine Menge fachliches Kauderwelsch verwendete.
»Ich verstehe nur Bahnhof.« Lucy machte eine hilflose Geste. »Was soll das denn alles heißen?«
»Es tut mir leid«, sagte Dr. Okada. »Ihr Herz wird schwächer, und für eine Transplantation ist sie nicht geeignet. Ich fürchte, es ist nur noch eine Frage der Zeit. Einen Tag noch, vielleicht auch weniger.«
Lucy brach zusammen. Sie fiel gegen mich und wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Ihre Tränen benetzten mein Shirt, und ich strich ihr tröstend über den Rücken. Währenddessen spürte ich, wie ich mich selbst abschaltete. Alle Systeme abschaltete. Der Schmerz trieb davon, und wie eine alte Gefährtin überfiel mich die Apathie. Einmal mehr war es an mir, die Dinge in die Hand zu nehmen, so wie ich es all die Jahre gemacht hatte, in denen ich mich um meine Mutter kümmerte. Man würde Einzelheiten besprechen, Pläne machen und ein Auge auf meine Schwester haben müssen. Die Verantwortung aber trug ich. Es gab sonst niemanden.
Asher berührte meine Hand, und ich sah durch ihn
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