Die Macht der Sechs - das Erbe von Lorien ; Bd. 2
sie meine Hand. Auf Zehenspitzen folge ich ihr.
Der Kasten
.
Ein heller Strahl der Hoffnung ist erschienen, als ich ihn kaum noch erwartet habe, jedoch am nötigsten brauchte.
16
Wir verlassen den Schlafraum. Wo immer Ella mich jetzt auch hinführt – ich werde ihr folgen. Schnell und lautlos läuft sie über den kalten Fußboden. Im Flur ist es dunkel. Während ich alles ganz deutlich erkennen kann, schaltet Ella zwischendurch immer wieder kurz die Taschenlampe ein, um sich zu orientieren.
Als wir die Kirche erreichen, vermute ich, dass sie auf den Nordturm zusteuert. Stattdessen führt sie mich durch den Mittelgang. Wir flitzen an den Bankreihen vorüber. Der halbkreisförmige Altarraum ist mit bunten Glasfenstern geschmückt. Das Mondlicht dahinter verleiht ihnen ein himmlisches Leuchten und lässt die Motive biblischer erscheinen als je zuvor. Irgendwo in der Nähe hören wir das rhythmische Geräusch fallender Wassertropfen.
An der vorderen Bankreihe biegt Ella nach rechts ab und steuert auf einen der zahlreichen Alkoven zu, die sich an beiden Seiten der Kirchenwände befinden. Ich folge ihr. Die Luft ist hier kühler als im Hauptschiff.
Eine große Statue der Jungfrau Maria mit erhobenen Händen ragt über uns auf. Ella läuft um sie herum. Als sie die hintere linke Ecke erreicht, dreht sie sich zu mir. »Ich muss ihn herunterholen«, sagt sie und klemmt sich die Taschenlampe zwischen die Zähne. Dann klammert sie sich an der steinernen Figur fest und klettert an ihr hinauf wie ein Eichhörnchen an einem Baum. Beeindruckt von ihrer Beweglichkeit kann ich nur staunend zusehen.
Als sie fast oben angekommen ist, hält sie kurz inne, klettert um die Figur herum und verschwindet in einer winzigen Nische, die von meinem Standort nahezu unsichtbar ist.
Die Nische ist mir noch nie vorher aufgefallen. Wie hat Ella sie entdeckt? Mit gerecktem Hals lausche ich auf das Schaben ihrer Schuhe über den nackten Stein. Offenbar ist die Nische so eng, dass sie gerade eben hineinkriechen kann. Es muss irgendein Schacht sein.
Ich kann ein Grinsen nicht unterdrücken. Ich wusste zwar, dass der Kasten hier irgendwo ist, aber wenn Ella nicht gewesen wäre, hätte ich ihn nicht mal in einer Million Jahren gefunden. Angesichts der Vorstellung, dass Adelina irgendwann vor Jahren mit dem Kasten hier hochgekrochen ist, muss ich lachen. Plötzlich höre ich nichts mehr. Ella hat angehalten. Zwanzig Sekunden vergehen.
»Ella?«, flüstere ich. Sie steckt ihren Kopf aus dem Schacht und sieht zu mir herunter. »Soll ich hochkommen?«
Sie schüttelt den Kopf. »Er klemmt irgendwo fest, aber ich hab’ ihn gleich. Ich bringe ihn dir in einer Minute«, flüstert sie zurück. Dann zieht sie den Kopf ein und verschwindet wieder. Ich kann es kaum ertragen, nicht zu wissen, was da oben passiert. Aufgeregt halte ich mich am Fuß der Säule fest. Gerade als ich so ungeduldig geworden bin, dass ich hochklettern will, höre ich hinter mir ein Geräusch, so als trete jemand gegen eine der Kirchenbänke. Erschrocken wirbele ich herum, aber die Jungfrau Maria versperrt mir die Sicht. Ich laufe um sie herum, schaue prüfend über die Bankreihen in der Kirche, sehe jedoch nichts.
»Ich hab ihn!«, höre ich Ella plötzlich rufen.
Ich verziehe mich wieder hinter die Statue und sehe nach oben. Wo bleibt Ella? Ich höre sie ächzen, während sie sich abmüht, den Kasten an die Öffnung der kleinen Nische zu zerren.
Ich weiß nicht, ob sie Schwierigkeiten hat, weil der Kasten schwer oder der Schacht so eng ist. Zentimeter um Zentimeter setzt sich das Gezerre dort oben fort. Ich bin total aufgeregt, weil ich nun bald meinen Kasten wiederhaben werde, und mache mir vorläufig nicht einmal Gedanken darüber, wie ich ihn öffnen kann. Wenn es so weit ist, werde ich dieses Problem schon lösen. Kurz bevor Ella die Öffnung der Nische erreicht, höre ich etwas anderes hinter mir.
»Was machst du hier?«
Erschrocken fahre ich herum. Gabby und Delfina stehen unter dem rechten Arm der Jungfrau Maria, während La Gorda und die drahtige Bonita, die mich beim Spiel auf dem Schwimmdeck fast umgebracht hat, sich unter dem linken Arm versammelt haben.
Ich schaue kurz über meine Schulter und entdecke zwei winzige Augen, die aus der Öffnung der Nische auf uns heruntersehen.
»Was wollt ihr?«, frage ich.
»Ich wollte nur mal sehen, was du kleine Tratschtante so treibst. Schon komisch. Ich hab dich nämlich aus dem Schlafraum schleichen sehen und bin dir
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