Die Macht der Steine
Stimme drang von oben zu ihm herab. Sie war feminin, lieblich und jung, ein Lied, dessen Worte er nicht zur Gänze erfaßte. Sie ähnelten Thinners Jäger-Dialekt, wurden jedoch durch Echos verzerrt. Er beugte sich, so weit er es für vertretbar hielt, über das Geländer und schaute nach oben. Es war definitiv das Mädchen – fünf, sechs, sieben Ebenen über ihm. Die Stimme klang beinahe kindlich. Manche Worte wurden mit dem Hauch einer Brise direkt zu ihm heruntergeweht:
»Dat sie, in einsamer Freiheit… G’hüllt in Kleid’r von Toten…«
Der rote Schacht reduzierte sich zu einem Punkt ohne Tageslicht. Die ungewohnte Helligkeit blendete ihn. Er beschattete die Augen, um besser sehen zu können. Das Mädchen zog sich vom Geländer zurück und beendete ihren Gesang.
Er wußte, daß er Grund zum Zorn hatte, daß er zum Narren gehalten wurde. Aber er war nicht zornig. Statt dessen verspürte er eine Einsamkeit, die zu übermächtig war, als daß er sie auf Dauer hätte aushalten können. Er wandte sich vom Schacht ab und drehte sich zu der Tür um, die zum Raum mit den Cyborgs führte.
Thinner erwiderte seinen Blick und grinste spitzbübisch. »Hatte keine Gelegenheit, guten Tag zu sagen«, meinte er in Hebräisch. Sein Kopf war auf einer zwei Fuß langen Metallschlange montiert. Sein Körper bestand aus einem grünen Wagen mit drei Rädern, der einen Yard lang und einen halben Yard breit war. Die Fortbewegung erfolgte geräuschlos. »Hast du irgendwelche Schwierigkeiten?«
Jeshua musterte ihn prüfend und grinste dann. »Das steht dir nicht«, kommentierte er. »Bist du noch derselbe Thinner?«
»Ist im Grunde egal, aber, ja, ich bin es noch, wenn es dich beruhigt.«
»Wenn es egal ist, mit wem spreche ich dann? Mit den Computern der Stadt?«
»Nein, nein. Sie können nicht sprechen. Zu beschäftigt mit der Instandhaltung. Du sprichst mit dem, was vom Architekten noch übrig ist.«
Jeshua nickte langsam, ohne indessen etwas verstanden zu haben.
»Es ist etwas kompliziert«, konzedierte Thinner. »Werde es dir später näher erklären. Du hast das Mädchen gesehen, und sie ist vor dir weggelaufen.«
»Ich muß sie ganz schön erschreckt haben. Wie lange ist sie schon hier?«
»Ein Jahr.«
»Wie alt ist sie?«
»Weiß nicht genau. Hast du in der letzten Zeit etwas gegessen?«
»Nein. Wie ist sie hereingekommen?«
»Nicht wegen ihrer Unschuld, falls du das glauben solltest. Sie war schon verheiratet, bevor sie hierherkam. Die Jäger legen Wert auf eine frühe Heirat.«
»Dann bin ich also auch nicht wegen meiner Unschuld hier.«
»Nein.«
»Du hast mich nie nackt gesehen«, sagte Jeshua. »Woher wußtest du dann, daß etwas mit mir nicht stimmt?«
»Ich bin nicht nur auf die menschlichen Sinne beschränkt, obwohl das, weiß der Teufel, schon schlimm genug ist. Folge mir, und ich werde dir ein geeignetes Quartier beschaffen.«
»Vielleicht will ich ja gar nicht bleiben.«
»Soweit ich orientiert bin, bist du hergekommen, um repariert zu werden. Das läßt sich machen, und ich kann es arrangieren. Aber Geduld ist immer eine Tugend.«
Jeshua nickte angesichts der vertrauten Belehrung. »Sie spricht Jäger-Englisch. Hast du deswegen die Jäger observiert, um einen Gefährten für sie zu finden?«
Das Thinner-Fahrzeug wandte sich ohne eine Antwort von Jeshua ab. Es rollte durch die Cyborg-Kammer, und Jeshua folgte ihm. »Es wäre am besten, wenn sich ihr jemand anschließen würde, den sie kennt, aber niemand hat sich bisher dazu überreden lassen.«
»Warum ist sie überhaupt hier?«
Thinner blieb erneut die Antwort schuldig. Sie bewegten sich auf einer spiralförmig um den Zentralschacht verlaufenden Rampe nach oben. »Das ist die langsame Route mit Ausblick«, erklärte Thinner; »du wirst dich an die Stadt und ihre Dimensionen gewöhnen müssen.«
»Wie lange werde ich bleiben?«
»Solange du es wünschst.«
Sie verließen die Rampe und gingen durch eine der Eingangshallen zu einem Appartementblock an der Stadtmauer. Die Strukturen und Farben wirkten hier kräftiger. Die Wände und Türen waren lichtundurchlässig und in leuchtenden Blau-, Blutorange- und Purpurtönen gehalten. Die ganze Szenerie erinnerte Jeshua an einen Sonnenuntergang. Ein langer Balkon an der Stadtmauer gestattete einen spektakulären Blick auf Arat und die Ebene, aber Thinner ließ ihm keine Zeit für Landschaftsbetrachtungen. Er führte Jeshua in ein großes Appartement und machte ihn mit der Einrichtung
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