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Die Macht der Steine

Die Macht der Steine

Titel: Die Macht der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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aber in greifbarer Nähe befand, konnte er sich für den Augenblick nur eine noch größere Verwirrung attestieren.
    »Es wird noch sehr lange dauern, bis ich das Geschehene vergeben kann«, sagte er.
    »Das mir, auch.« Sie seufzte. »Als ich verheiratet war, fand ich heraus, daß ich keine Kinder haben konnte. Das konnte mein Mann nicht verstehen. Alle anderen Frauen in der Gruppe konnten Kinder bekommen. So ging ich in Schande und kam zu der Stadt, die ich immer verehrt hatte. Ich glaubte, es wäre die Stadt, die allein helfen könnte. Aber jetzt weiß ich nicht mehr. Ich will keinen Mann mehr, ich will warten, bis sie verschwindet. Sie ist zu schön, um sie zu verlassen, solange sie noch hier ist.«
    »Verschwindet?«
    »Die Städte, sie werden alt, und sie wandern«, sagte sie. »Nicht alle Dinge funktionieren hier mehr gut. Teile sterben. Bald wird alles sterben. Sogar solche wie Thinner, sie sterben. Der Raum ist voll von ihnen. Und es werden keine mehr hergestellt. Die Stadt ist zu alt, um sich zu erneuern. Also warte ich, bis die Schönheit vergangen ist.«
    Jeshua betrachtete sie näher. Ihr linkes Auge wies einen Stich ins Weißliche auf. Das war vor einigen Stunden noch nicht dagewesen.
    »Es ist Zeit zum Schlafengehen«, meinte sie. »Sehr spät.«
    Er faßte sie zart an der Hand und führte sie durch die Phantome, die leere, aber volle Treppe hinauf und fragte sie dabei, wo sie lebte.
    »Ich habe kein bestimmtes Zimmer«, antwortete sie. »Schlafe mal in diesem, mal in jenem. Aber wir können nicht dorthin zurück.« Sie blieb stehen. »Dort. Da. Kann nicht zurück.« Sie schaute zu ihm auf. »Dat mir, kannit sprech lausig von…« Sie hielt die Hand vor den Mund. »Ich vergesse. Ich habe gelernt aber nu – ich weiß nit…«
    Ein Gefühl des Grauens ergriff langsam von ihm Besitz.
    »Etwas läuft schief«, stellte sie fest. Ihre Stimme wurde tiefer, wie die von Thinner, und sie öffnete den Mund zu einem Schrei, brachte aber keinen hervor. Sie riß sich von ihm los und richtete sich auf. »Ich mache etwas falsch.«
    »Zieh dein Hemd aus«, verlangte Jeshua.
    »Nein.« Sie wirkte beleidigt.
    »Es ist alles eine Lüge, nicht wahr?« fragte er.
    »Nein.«
    »Dann zieh das Hemd aus.«
    Sie nestelte daran herum. Ihre Hände zitterten.
    »Jetzt.«
    Sie zog es sich über den Kopf und stand nackt da, mit vorgestreckten kleinen Brüsten, schmalen eckigen Hüften mit knochigen Grübchen und mit einem braunen Flaum auf den Genitalien. Sie hatte ein kreisförmiges Muster aus Narben auf der Brust. Die Narben wiesen schwarze Schmauchspuren auf, wie Asche. Wie die Asche auf seiner Brust – von einem Lagerfeuer, das nie existiert hatte. Einst waren sie beide markiert worden wie Thinner; Mandala hatte ihnen ihr Siegel eingeprägt.
    Sie wandte sich auf der Treppe von ihm ab, wobei Phantome an ihr vorbei und durch sie hindurch schwebten. Er streckte den Arm aus, um sie festzuhalten, war aber nicht schnell genug. Ein Krampf lief durch ihr Bein, und sie stürzte, wobei sie sich wie eine Kugel zusammenrollte, die Treppe hinunter, kollidierte mit dem Geländer und prallte schließlich auf den Boden.
    Er stand fast ganz oben und sah, wie ihre hellblaue Körperflüssigkeit, das rote Blut der Haut und das grüne Gewebe aus einem aufgerissenen Bein sickerten. Er befürchtete, verrückt zu werden.
    »Thinner!« schrie er. Immer wieder rief er den Namen. Das lunare Glühen wurde intensiver, und die Phantome verschwanden. Die Echos seiner grellen Schreie brachen sich in den Hallen und Gewölben.
    Der Cyborg erschien am Treppenaufgang und kniete sich hin, um das Mädchen zu untersuchen.
    »Wir beide«, sagte Jeshua. »Beides Lügen.«
    »Wir haben keine Ersatzteile für sie auf Lager«, sagte Thinner.
    »Warum habt ihr uns zurückgeholt? Warum habt ihr uns nicht in Ruhe gelassen. Und warum habt ihr uns nicht einfach gesagt, was wir sind?«
    »Bis vor einigen Jahren gab es noch Hoffnung«, sagte Thinner. »Die Stadt versuchte, die Programmierung zu korrigieren und ihre Einwohner zurückzuholen. Vor sechzig Jahren erteilte sie dem Architekten größere Vollmachten bei der Fehlersuche. Wir haben uns erschaffen – dich, sie, die anderen –, um unter die Menschen zu gehen und zu sehen, wie sie jetzt leben, damit die Städte ihren Bedürfnissen gerecht werden konnten. Und wenn wir dir das von vornherein schon gesagt hätten, würdest du uns denn geglaubt haben? Mit deiner Identität als Mensch warst du so davon überzeugt, daß keine

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