Die Macht der Steine
andere Stadt dir Zugang gewähren würde als deine eigene. Dann setzten der Alterungsprozeß und die Krankheit ein. Der Versuch schlug schließlich fehl.«
Jeshua spürte die Narben auf der Brust und schloß die Augen, wobei er sich wünschte und hoffte, daß das alles nur ein Alptraum war.
»Als du noch ein junger Cyborg warst, hat David der Schmied das Zeichen entfernt, damit du als Mensch auftreten konntest. Dann hat er dich jedoch mit einem anderen Handikap versehen, so daß du eines Tages zurückkommen mußtest.«
»Mein Vater war wie ich.«
»Ja. Er trug auch die Narbe.«
Jeshua nickte. »Wieviel Zeit bleibt uns noch?«
»Ich weiß nicht. Die Stadt verliert die Erinnerungen, die sie für ihre Reproduktion braucht. Sie wird bald aufgeben müssen… weniger als ein Jahrhundert. Sie wird sich wie die anderen auf Wanderschaft begeben und sich vielleicht irgendwo einen Platz zum Sterben suchen.«
Jeshua entfernte sich von Thinner und dem Körper des Mädchens und ging durch eine Eingangshalle zu den Terrassen an der Stadtmauer. Er beschattete die Augen vor der im Osten aufgehenden Sonne und blickte zu Arat hinüber. Dort erkannte er die Stadt, die einst Mesa Canaan besetzt hatte. Sie hatte sich desintegriert und versuchte, das Gebirge zu überqueren.
»Kisa«, sagte er.
Viele Städte starben langsam. Sie lebten noch Jahre, Jahrzehnte, manche scheinbar aus schierer Willenskraft, andere aufgrund günstiger Umweltbedingungen. Wo auch immer sie sich befanden, verharrten die in ihrem Schatten lebenden Menschen in einer glorreichen Vergangenheit, die nie wiederkehren würde… so glaubten sie, denn das Universum war ein rauher Ort, und Gottes Urteil war hart.
Aber nicht alle Exilanten erkannten dieses Urteil an.
Und auch nicht alle Städte, denn bei einigen vollzog sich das Sterben auf eine völlig unerwartete Art und Weise…
Zweites Buch
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3460 n. Chr.
WIEDERAUFERSTEHUNG
ES WAR IN DER MITTE DES Monats Tammuz; Dürre plagte das Land. Das Dorf Akkabar war in der Nähe des Zusammenflusses zweier Wasserläufe gelegen, die normalerweise schiffbar waren, in einer ansonsten öden und eintönigen Weite, wo einst ein einziger breiter Strom sich dem Meer entgegengewälzt hatte. Die Flüsse waren jetzt völlig ausgetrocknet. Einige Dörfler glaubten, daß der Grundwasserspiegel unter die Bohrtiefe der meisten Brunnen der Gemeinde gesunken war; andere hingegen interpretierten die Trockenheit als Strafe Allahs für eine Vielzahl von Sünden. Doch an wen konnte man seine Gebete um Vergebung noch richten? Sie hatten die Erde vor über tausend Jahren verlassen. Unter dem heißen blauen Himmel von Gott-der- Schlachtenlenker konnte sich niemand mehr an die Richtung erinnern, in der Mekka lag:
Die vierzigjährige Reah war eine vom Leben gebeutelte Lumpen- und Knochensammlerin. Sie hatte sich ganz bewußt dafür entschieden, dem Weg der Teufel zu folgen, der nur von Alpträumen und Ifrits beschritten wurde, zu denen sie vielleicht auch gehörte: ein besonders gut getarnter Ifrit. Allmählich bekam sie wieder einen klaren Kopf, und sie wühlte weiter im Müll herum. All das war in den letzten zehn Jahren eingetreten, nachdem ihr Mann und ihre Tochter in einem Brand umgekommen waren.
In der Stadt fiel nur wenig Abfall an. Da stand sie nun in ihrem schwarzen Mantel, mit zum Schutz vor dem Staub und der Sonne verschleiertem Gesicht, und blickte mit schwarzen Augen auf den gestapelten Felsenschutt, verdurstetes Vieh, zerbrochene Keramik, alte, zersplitterte Kisten und eine scharrende Katze. Ihre abgetragenen Sandalen schlurften unsicher über den zusammengebackenen Dreck. Sie drehte sich um und betrachtete das Nordtor von Akkabar. Von dem, was es hier gab, konnte sie nicht mehr leben. Die Leute produzierten nicht genügend Müll.
Sie schlurfte durch die Tore der Stadt und ging zwischen schläfrigen Wachen hindurch, die zu müde waren, um sie zu treten. Sie konnte den Durst an einem der wenigen öffentlichen Wasserhähne stillen, die noch aktiv waren, aber der Hunger nagte in ihr. Mit dem letzten Rest ihres Verstandes wartete sie auf das Einsetzen der Dämmerung, zog sich auf dem vom Mondlicht beschienenen leeren Platz aus und wusch ihre einzige Kutte, bis sie ansehnlich genug wirkte, um sich als arme Witwe ausgeben zu können. Sie arrangierte die Kapuze und den Schleier so, daß ihr struppiges Haar darunter verborgen wurde. Am Rande des Marktes wartete sie auf den Morgen.
Nachdem die Händler ihre Stände
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