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Die Macht der Steine

Die Macht der Steine

Titel: Die Macht der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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aufgebaut hatten, spazierte sie zwischen den Reihen hindurch und erweckte den Anschein, die halbvollen Körbe mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen zu begutachten. Mit Fliegenklatschen bewaffnete Jungen beobachteten sie mit zu Schlitzen verengten Augen, als sie mal diese, mal jene verschrumpelte Frucht inspizierte. Als sie glaubte, daß die Jungen mal etwas unaufmerksam waren, schob sie eine Hand in den Ärmel und ergriff eine halbverfaulte Orange. Als die Hand wieder zum Vorschein kam, war sie leer.
    Sie hatte drei Früchte ergattert und hielt nach der günstigsten Fluchtroute Ausschau, als der Aufseher des Marktplatzes wie ein Dschinn aus dem Staub vor ihr auftauchte. »Wer bist du, Frau?« fragte er. Sie schaute auf und schüttelte den Kopf. »Du weißt, was es bedeutet, zu stehlen?«
    Reah wandte sich ab und wollte wegschlurfen. Der Aufseher packte sie am Arm, woraufhin eine Orange aus dem Ärmel kullerte. Einer der Jungen lachte und hob die Frucht auf. »Es sind harte Zeiten«, wußte der Aufseher. »Wir müssen alle essen.« Reah schaute ihn hoffnungsvoll an. »Wer stiehlt, stiehlt das Essen aus dem Munde unserer Kinder. Ist dir das klar?« Sein Gesicht rötete sich, und der Blick schweifte in die Ferne. Eine innere Wut wallte in ihm auf, und weder Reahs demütige Haltung noch ihre ängstlichen Augen konnten ihn besänftigen.
    »Dieben hackt man die Hand ab«, grummelte er. »So steht es geschrieben, billah! So hatten unsere Väter es vor langer Zeit gehalten. Aber in unserem Elend und im Exil haben wir diese Gesetze vergessen. Nun ist es an der Zeit, sich ihrer wieder zu erinnern!«
    Reah schüttelte erneut den Kopf und traute sich nicht, etwas zu sagen.
    »Ich habe letzte Woche hier einen Dieb steinigen lassen!« rief der Aufseher und hob die Hand. Er schlug ihr auf den Kopf, und sie fiel in den Staub. »Brüder, hier ist eine Diebin! Eine Ausgeburt von Iblis, eine Lebensmitteldiebin!«
    Die morgendlichen Einkäufer versammelten sich um sie. Reah sah kein Mitleid in ihren Augen. Sie stand auf und hob trotzig die Hände, wiegte sich hin und her und versuchte, sie mittels ihrer Kraft zu vertreiben. Sie würde ihnen helfen, sich mit einem Ifrit anzulegen.
    Ein Stein flog aus dem Kreis und traf sie im Rücken. Sie vergaß ihre Angst und den Hunger und rannte los. Die Menge folgte ihr wie ein einziges wildes Tier. Sie wich einem Stein aus, stieß gegen einen langsam dahinrollenden Wagen und stürzte zu Boden. Die Menge umstellte sie erneut. Sie sah die unter den Kutten nach ihr tretenden Beine und hörte Glocken. Eine Vielzahl läutender Bronzeglocken umgab sie, die wie Insekten summten. In der Menge erkannte sie einen Mann mit einem strengen Gesicht, einen Muezzin vielleicht, der aber noch Teil der Masse war, mit gnadenlosen glasigen Augen, mit leicht nach oben gerichtetem Kopf, gen Himmel schauend, einen Stein in der Hand. Er hob die Hand.
    Sie erhob sich und klammerte sich an ihn. »Ich stelle mich unter Euren Schutz«, sagte sie mit rauher Stimme. »Niemand darf mir das verwehren.«
    Er schaute auf sie herab, und der Pöbel hielt inne. Sein Blick wurde klar, und er murmelte Flüche vor sich hin.
    »Ullah yáffuk’ny minch!« rief der starke Mann. Nur ein Muezzin oder ein Gelehrter beherrschte die alte Sprache so gut.
    »Es ist Allahs Wille«, flüsterte sie, wobei ihre Augen ihn in ihren Bann zogen. »Du kannst dich nicht weigern.«
    Der Mann schüttelte den Kopf und hielt die Menge zurück mit erhobener Hand. So verlangte es der Brauch – er konnte jemanden, der bei ihm Schutz suchte, nicht zurückweisen. Sie stand jetzt unter seinem Schutz, und sein Glaube verpflichtete ihn dazu, Schaden von ihr zu wenden, zumindest fürs erste. Die Menge umkreiste sie unruhig. Reah blickte über seine Schulter auf die Steine und Hände und kalten Gesichter. »Wölfe«, sagte sie. »Ich werde vor Wölfen davonfliegen.«
    »Halt«, sagte der Mann. »Sie ist nicht bei Verstand. Es ist nicht recht, eine Kranke zu steinigen…«
    »Auch eine Kranke muß das Gesetz respektieren«, wandte der Aufseher ein. Sie schaute zum Gesicht des starken Mannes auf.
    »Er hat recht«, konzedierte dieser. »Du mußt die Stadt verlassen, oder sie werden dich steinigen.«
    Sie nickte. Die nächste Stunde hatte keinen großen Erinnerungswert für sie. Nur die Schöpfkelle mit Wasser, die Aushändigung eines Säckchens mit trockenem Brot und ein paar Feigen, die Tasse Leban aus dem fast leeren Krug der Frau des Muezzins. Er gab ihr einen

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