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Die Macht der Steine

Die Macht der Steine

Titel: Die Macht der Steine Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Greg Bear
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deine Gedanken wieder klären.«
    Er folgte ihr zu seinem Appartement in der Nähe des Scheitelpunktes der Stadt. Die Räumlichkeiten hatten sich nicht verändert. Bevor sie sich dort von ihm verabschiedete, fragte er sie noch nach ihrem Namen.
    »Anata«, sagte sie. »Anata Leucippe.«
    »Fühlst du dich denn nicht einsam abends?« fragte er und stolperte über die Frage wie ein Kind in einem Stoppelfeld.
    »Niemals«, entgegnete sie. Sie lachte und wandte sich halb von ihm ab. »Un’ nun bin ich sicher dat, du bist nit vertrauenswürdig!«
    Sie verabschiedete sich an der Tür. »Iß etwas!« rief sie von der Ecke der Eingangshalle. »Ich komme zurück, ungefähr um Mitternacht.«
    Er lächelte und schloß die Tür, und dann ging er in die Küche, um sich eine Mahlzeit zuzubereiten.
    Die Tatsache, daß er nun ein ganzer Mann war, ersparte ihm indessen nicht den Schmerz und die Angst der Einsamkeit, wie er jetzt wußte. Das letzte Anziehen der Daumenschrauben umfaßte im Grunde schon die Möglichkeit der Auslöschung. Er stiefelte umher wie ein Bär im Käfig, überlegte intensiv und kam dennoch zu keinem Ergebnis.
    Gegen Mitternacht stand er kurz vor dem Explodieren. Er wartete auf der Panoramasektion der Terrasse, schaute ins Mondlicht, in dem Gott-der- Schlachtenlenker wie in Milch badete, und packte das Geländer mit einer Kraft, die Holz hätte splittern lassen. Er lauschte den Geräuschen der Stadt. Sie waren nicht mehr so beruhigend, wie er sie in Erinnerung hatte, weder synchron noch melodisch.
    Anata erschien eine halbe Stunde später als angekündigt. Jeshua hatte mittlerweile so oft zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt geschwankt, daß er erschöpft war. Sie nahm ihn bei der Hand und ging mit ihm zu Fuß zum Zentralschacht. Sie stießen auf verborgene Wendeltreppen, gingen vier Ebenen tiefer und betraten eine breite Promenade, die den sich erweiternden Schacht umlief. »Das Laufband, es funktioniert noch nicht«, erklärte sie ihm. »Meine Sprache, sie wird besser. Ich bin am Lernen.«
    »Es gibt keinen Grund, weshalb du so sprechen solltest wie ich«, sagte er.
    »Es ist manchmal schwierig. Dat mir – ich kann nicht ein ganzes Leben von – von Sprache ablegen.«
    »Deine Sprache ist schön«, sagte er nur halb aufrichtig.
    »Ich weiß. Schöner. Lebendiger – oh… Aber…« Sie zuckte die Achseln.
    Jeshua glaubte, daß er höchstens fünf oder sechs Jahre älter war als sie, alles andere als eine unüberwindliche Distanz. Er fuhr herum, als die Lichter der Stadt trüber wurden. Die Wände verloren ihr helles Glühen und produzierten statt dessen einen fahlen, lunaren Schimmer, wie die Nacht dort draußen.
    »Dat isset, wozu ich dich hergebracht«, sagte sie. »Zu sehen.«
    Die gespenstische lunare Lumineszenz ließ ihn erzittern. Abschnitte der Wände und des Bodens sponnen Lichtfäden zwischen ihnen, und aus den Fäden wuchsen Geister, die zuerst wie Luftspiegelungen schimmerten und sich dann zu transparenten Entitäten verfestigten. Sie setzten sich in Bewegung.
    Sie kamen in Paaren, in Gruppen, in ganzen Scharen, und unter ihnen befanden sich Kinder, Säugetiere, Vögel und Dinge, die er nicht identifizieren konnte. Sie bevölkerten die Promenade und die Terrassen, flanierten, unterhielten sich in hohen Flüstertönen, die er nicht verstand, sie lachten und schauten und waren lebendig, jedoch nicht in Jeshuas Zeit.
    Sie waren nicht materiell, weder Roboter noch Cyborgs. Sie waren Bewußtseine aus den letzten zehn Jahrhunderten, und er verlor schnell jegliche Beherrschung, als er sah, wie sie sich ihm näherten und ihn einkreisten.
    »Schsch!« machte Anata und ergriff seinen Arm, um ihn zu stützen. »Sie verletzen niemanden. Sie sind nit hier. Sie sind Träume.«
    Jeshua verschränkte die Hände und zwang sich dazu, ruhig zu bleiben.
    »Das ist die Stadt, so wie sie sein will«, sagte Anata. »Du willst die Polis töten, die Stadt, weil sie die Menschen aussperrt, aber schau – sie ist auch verletzt. Sie hat Sehnsucht. Was ist eine Stadt denn ohne ihre Menschen? Nur krank. Nit schlecht. Nit böse. Kannst doch keinen Kranken töten, oder?«
    Jede Nacht, so sagte sie, ließ die Stadt die Vergangenheit wieder lebendig werden, und jede Nacht schaute sie zu.
    Jeshua sah das Pseudo-Leben, die flüsternde Existenz einer Milliarde gespeicherter Bewußtseine, und seine Wut ließ langsam nach. Die Hände lösten sich voneinander. Jetzt, wo die Erkenntnis zwar noch nicht erfolgt war, sich

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