Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
vergehen, und so lange wollen Sie doch wohl nicht trauern, oder?«
»Sie haben recht, Paul! Warum soll ich hier herumsitzen und mich nach ihm sehnen, wenn er nicht den kleinsten Gedanken an mich verschwendet?«
»So ist es richtig. Ich habe versprochen, immer für Sie da zu sein. Wenn Sie also genug haben … Meine Arme sind weit geöffnet.«
Entsetzt sprang Charmaine auf. »Wenn Sie glauben, dass ich ihn so schnell vergesse, empfinde ich das als Beleidigung! Ich bin vielleicht wütend auf ihn, aber …«
Paul grinste. »Und ich dachte, Sie hassen ihn!«
»Das tue ich auch.« Entwaffnet sank sie wieder auf die Klavierbank. »Ich hasse ihn wirklich … und wenn er zurückkommt, wird er genau das hören! Aber …«
»… Sie lieben ihn auch«, ergänzte Paul. »Sie lieben ihn so sehr, dass sie ihn sogar hassen, weil er Blackford jagt. Aber daran ist nichts Falsches.«
»Und wenn er nicht zurückkommt, Paul? Ich mache mir solch große Sorgen.«
»Aber, aber Charmaine. So gewitzt wie John ist keiner. Er weiß, was er tut. Wenn er Blackford nicht finden kann, dann kann es niemand. Außerdem ist Vater bei ihm und passt auf ihn auf. Ich bin sicher, dass den beiden nichts passiert.« Paul wurde nachdenklich. »Ist es vielleicht Schicksal, dass sie plötzlich aufeinander angewiesen sind? Vielleicht kommen sie ja mit sich und mit der Vergangenheit versöhnt zurück.«
Sie wünschte, dass sich seine Worte bewahrheiteten. Offenbar hatte er sich ebenfalls Gedanken gemacht und wollte sie trösten. Sie streichelte seine Wange. »Ich bete darum, dass Sie recht behalten«, sagte sie leise. »Und von heute an habe ich auch keine schlechte Laune mehr. Das verspreche ich.«
Paul ergriff ihre Hand und küsste ihre Handfläche. »Ich möchte nur, dass Sie glücklich sind.«
Die Aufzeichnungen der Schiffsrouten ergab, dass Blackford Richmond am sechzehnten Mai auf der Seasprit verlassen hatte und am achtzehnten in New York City eingetroffen war. Er hatte also drei Monate Vorsprung, um seine Spur zu verwischen.
Während Frederic auf dem Kai wartete, ging John zurück auf die Raven und sprach mit dem Kapitän. Sie vereinbarten, früh am Morgen Segel zu setzen und die Ladung Zucker und Tabak, die eigentlich für England bestimmt war, stattdessen auf einer Auktion in New York zu versteigern.
Zurück im Wagen wandte sich John an seinen Vater. »Auf dem Rückweg zum Haus möchte ich noch schnell einen Besuch machen.«
Frederic nickte und fragte sich, was John damit meinte.
Schweren Herzens kam Joshua Harrington zu Hause an und fragte sich, wie er seiner Frau beibringen sollte, was er soeben gehört hatte.
Aber Loretta wusste augenblicklich, dass etwas nicht in Ordnung war. »Was ist los?«
»Ich habe John Duvoisin in der Bank getroffen.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »War Charmaine auch dabei?«
»Leider nein, meine Liebe. Ich fürchte, dass es zwischen den Eheleuten nicht zum Besten steht. John hat sie zu Hause gelassen, weil sie schwanger ist. Ich wusste doch, dass es nicht gut gehen würde!«
Loretta überlegte, ob sich diese Bemerkung auf Charmaines Ehe mit John bezog oder auf ihre Idee, das Mädchen nach Les Charmantes zu schicken? Charmaine hatte in ihren Briefen oft von düsteren Ereignissen berichtet: von Colettes Tod, von Frederics Hochzeit mit Agatha, von der Rückkehr des verlorenen Sohns und von dem schrecklichen Unglück, bei dem der kleine Pierre ertrunken war. Ob es noch andere Widrigkeiten gab, die auf der Familie lasteten? Manchmal war den Harringtons nicht recht wohl bei der Vorstellung, dass Charmaine dort lebte. Allerdings hatte sie nie den Wunsch nach einer Rückkehr nach Richmond angedeutet. Stattdessen schrieb sie, dass sie bei den Mädchen bleiben wolle, und berichtete von Johns Rückkehr nach Virginia und Frederics gesundheitlichen Fortschritten und Pauls bevorstehender Eröffnung seines eigenen Unternehmens. Offenbar verbrachte sie viel Zeit mit ihm, aber ihre Gefühle, Absichten oder Ziele erwähnte sie mit keinem Wort. Loretta machte sich zwar so ihre Gedanken, aber mit zwanzig Jahren war Charmaine inzwischen eine erwachsene Frau, die ihre eigenen Entscheidungen traf.
Allerdings hatte Father Michaels seltsamer Besuch vor fast fünf Monaten Lorettas Unruhe erneut geschürt. Keine zwei Wochen darauf hatten die Harringtons Raymond und Mary Stanton nach deren Rückkehr von Paul Duvoisins festlicher Eröffnung getroffen. Mary brannte förmlich darauf, den neuesten Klatsch über die
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