Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
unerwartete Hochzeit loszuwerden, die alle Ereignisse dieser Woche überstrahlt hatte.
»Sie haben nichts davon gewusst?«, wunderte sich Mary, als Loretta sie ungläubig ansah. »Sicher hat Ihnen Charmaine von ihren Gefühlen für diesen Mann berichtet? Dass er ihr den Hof gemacht hat? Nein?«
Als Loretta nur die Schultern zuckte, breitete Mrs Stanton mit Wonne ihr Wissen aus. »Es war überhaupt sehr seltsam.« Sie legte eine kleine Pause ein, um sich alles wieder ins Gedächtnis zu rufen. »Vor dem Ball habe ich noch mit Charmaine gesprochen. Sie war schlicht gekleidet, wie sich das für eine Gouvernante gehört, und hatte die Kinder bei sich. Ihren Kavalier für den Abend erwähnte sie mit keinem Wort. Zwei Stunden später verschwand sie, um die Kinder ins Bett zu bringen. Mit ihrer Rückkehr hat niemand gerechnet … und schon gar nicht am Arm von John Duvoisin und in einer so eleganten Robe! Die beiden haben fast den ganzen Abend miteinander getanzt. Was Paul anging, so war er zwar der Begleiter von Anne London, aber jeder konnte sehen, dass er außer sich war und Charmaine mit Blicken verfolgte. Entweder passte ihm ihre Anwesenheit nicht … oder ihr Begleiter.« Mary schüttelte den Kopf, als ob sie es noch immer nicht glauben könnte. »Und dann erst das Getuschel, als er mit ihr tanzte! Irgendetwas stimmte da ganz und gar nicht!«
Loretta schauderte zwar bei dem Gedanken an den Tratsch der Leute, aber nun wollte sie auch noch den Rest erfahren und ermunterte Mrs Stanton fortzufahren.
»Ich habe gehört, dass John am nächsten Morgen bei der Messe in der Kapelle neben ihr saß, obgleich er sonst nie in der Kirche zu finden ist. Charmaine hielt ihren Kopf die ganze Zeit über gesenkt, was zu nicht enden wollenden Spekulationen über ihr Verhältnis zum Erben des Hauses Anlass gab. Aber mit der Erklärung, die John am Ende der Messe abgab, hatte keiner gerechnet: Die beiden waren zwei Stunden zuvor getraut worden! Aus verlässlicher Quelle weiß ich, dass Paul völlig außer sich war!«
»Und Charmaine?«, fragte Loretta. »Wie hat sie reagiert?«
»Anne London behauptet, dass sie sehr verlegen gewesen sei, als ob« – sie dämpfte ihre Stimme zu einem Flüstern –, »als ob sie sich für irgendetwas schämte.«
»Aber, Mary«, entrüstete sich Loretta, »das wissen Sie doch gar nicht! Bestimmt empfindet Mr Duvoisin sehr viel für Charmaine, wenn er ihr sogar einen Antrag gemacht hat.«
»Und warum hat es keine richtige Hochzeitsfeier gegeben? Die kann er sich doch wohl leisten, oder?«
Fürwahr, eine gute Frage .
Einige Wochen lang sorgten sich Joshua und Loretta nach Kräften, bis endlich ein fröhlicher, unbeschwerter Brief von Charmaine eintraf. Vermutlich wird Sie meine Neuigkeit sehr überraschen , schrieb sie, aber vor knapp zwei Wochen habe ich John Duvoisin geheiratet. Mr Harrington soll sich nicht beunruhigen. Ich bin sehr glücklich. Wie ich Ihnen schon vor einiger Zeit schrieb, ist John ganz und gar nicht der Mann, für den ich ihn bei unserer ersten Begegnung gehalten habe …
Loretta war zwar noch leicht besorgt, doch in ihren Augen hatte Charmaine die richtige Entscheidung getroffen. Die junge Frau hatte, und das war unbestreitbar, gut für sich gesorgt, auch wenn dem Mann, den sie sich ausgesucht hatte, nicht der beste Ruf vorausging.
Heute jedoch lebten ihre Befürchtungen wieder auf. Es gefiel ihr nicht, dass Charmaine so schnell schwanger wurde und zu Hause bleiben musste, während ihr Mann auf Reisen ging. Bekümmert sah sie ihren Mann an. »Was meinst du, Joshua, was ist unserer Charmaine widerfahren?«
»Das mag ich mir nicht ausdenken. Ich mache mir lieber ein eigenes Bild.«
»Und wie?«
»Ich reise nach Charmantes«, erklärte er, »und wenn du dich nicht vor der Überfahrt fürchtest, meine Liebe, so darfst du mich herzlich gerne begleiten.«
»Glaubst du vielleicht, dass ich dir gestatten würde, allein zu verreisen?«
Der Wagen hielt vor dem Tor von St. Jude, und John half seinem Vater auf das Pflaster hinunter. »Was machen wir hier?«, fragte Frederic verwundert.
»Wir betreiben nur einige Nachforschungen«, erklärte John, als sie das Kloster betraten. »Ich habe einen guten Freund, der Auskünfte über Father Benito einholen kann. Schließlich dürfen wir seine Rolle bei dem Geschehenen nicht vergessen.«
Eine Nonne öffnete die Tür. John nahm seine Kappe ab, und dann wurden sie in einen karg möblierten Raum geführt, der als eine Art Büro diente. Sie
Weitere Kostenlose Bücher