Die Macht der verlorenen Zeit: Roman
ungerecht und muss geändert werden. Liebster Bruder, hilf mir! Ich bitte dich inständig, mein Liebster! Sobald dieses letzte Hindernis aus der Welt geschafft ist, werden wir beide ein Paar. Das verspreche ich dir.«
»Aber John steht doch an erster Stelle. Ich dachte, er sei das Problem.«
»Das ist er natürlich auch! Aber er soll genauso leiden, wie ich gelitten habe! Es ist nur eine Frage der Zeit. Ich garantiere dir, dass mein Plan ihm endgültig den Hals bricht.«
Ihre hohlen Versprechungen verfolgten ihn noch heute. Unbewusst hatte er damals die Wahrheit erkannt: Er war Agathas Werkzeug. Aber das wollte er nicht wahrhaben. Stattdessen stimmte er ihrem teuflischen Plan zu und hoffte im Stillen, dass Frederic in der Aufregung einen fatalen Schlaganfall erlitt und Agatha endlich begriff, wie sehr er sie liebte. Für den Fall, dass es nicht so kam und er von der Insel flüchten musste, setzte er einen entsprechend hohen Preis für seine Mithilfe an.
Dann der verhängnisvolle Abend: Aufgeregt kam Agatha zu ihm. Die Gelegenheit war perfekt. Beim Dinner hatte Pierre selbst den Anlass geliefert. »Wir müssen das Eisen schmieden, solange es heiß ist.« Agathas Gedanken arbeiteten fieberhaft. »Wir müssen Frederics Zorn zum Inferno steigern, solange er noch so wütend auf John ist! Und zwar schnell, bevor John wieder nach Richmond fährt!«
Robert schauderte. Agatha war wie besessen. »Wie viel zahlst du mir dafür?«, fragte er kühl.
Im ersten Moment verschlug es Agatha die Sprache, doch sie erholte sich schnell … und unterzeichnete einen Schuldschein, der ihm Thomas Wards gesamtes Vermögen übertrug.
Am nächsten Morgen rührte Agatha eine winzige Dosis Arsen in Pierres Milch. Eine Stunde später klagte der Junge über Bauchkrämpfe und Kopfschmerzen, und man betraute John, wie sie es vorausgesehen hatte, mit der Wache am Krankenbett, während die Familie die Messe besuchte.
Inzwischen betrat Robert die Stallungen, wo kaum jemand war, da die meisten Pferdeknechte ebenfalls die Messe besuchten. Er hatte Respekt vor dem Hengst, aber auch diese Aktion verlief überraschend einfach. Mit Heißhunger verschlang Phantom die Mango, die er zuvor ausgehöhlt und mit Lauge gefüllt hatte, und Sekunden später wand sich das Tier vor Schmerzen. Robert löste den Riegel, und der Hengst machte einen gewaltigen Satz und riss Robert zu Boden, als er aus dem Stall ins Freie sprengte. Robert sprang auf und floh durch die Hintertür, während von der Wiese aufgeregte Rufe und lautes Wiehern zu hören waren.
Minuten später rannte er die Hintertreppe hinauf, die ins obere Stockwerk zu Agathas und Frederics Räumen führte, und beobachtete, wie John aus dem Kinderzimmer zum Treppenhaus stürzte. Noch bevor die Haustür ins Schloss fiel, war er an Pierres Bett und nahm den Jungen auf die Arme. Er mied den Blick auf die geschlossenen Augen und rannte denselben Weg zurück, den er gekommen war, und weiter über die rückwärtigen Wiesen bis in den sicheren Wald. Aber das Kentern des Bootes und das Ertränken erforderten mehr Zeit als geplant. Laute Rufe aus der Ferne lenkten ihn ständig ab. »Der See … mein Vater sagt, wir müssen am See suchen!«
Er flüchtete zum Bootshaus und musste zu seinem Entsetzen sehen, dass der Junge nicht tot war. Was, wenn er aufwachte, wenn er redete? Drei grausame Tage lang konnte er nichts tun als warten. Es lagen keine Schiffe im Hafen … es gab keine Möglichkeit zur Flucht. Wenn man ihn ans Bett des Jungen rief, würde er keine Sekunde zögern und die Tat vollenden. Aber Pierre starb ohne sein weiteres Zutun.
Noch heute standen ihm die Bilder in aller Schrecklichkeit vor Augen. Er seufzte erleichtert. Vor elf Monaten war ihm das Schicksal mehr als gnädig gewesen. Deshalb hatte er Charmantes verlassen. Hier war er in Sicherheit. Weitab von Benito und weitab von Agatha. Hier spürte ihn niemand auf. Nicht einmal Frederic. Mit verhaltenem Lächeln ging er leichtfüßig die Straße entlang.
Samstag, 15. September 1838
Maddy Thompson schüttelte ein hübsches Kleid aus. Es gehörte zu der Garderobe, die John für seine Frau in Europa bestellt hatte. Aber Charmaine konnte sich nicht daran freuen. Die Kleider passten ihr nicht mehr, und selbst wenn sie gepasst hätten, war John nicht da, um sie zu bewundern.
»Gefallen sie Ihnen denn gar nicht?«, fragte Jeannette.
Selbst Yvette konnte ihre Gouvernante nicht verstehen. »Die sind doch wunderschön.«
»Ihr habt ja recht, aber ich kann
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